Veranstaltungen Auf Stadtschreiber-Spuren in Bergen unterwegs

Am Sonntag, 23. Juni, war allerbestes Wetter für einen literarischen Spaziergang unter dem Titel Inspiration Bergen: Unterwegs mit Stadtschreibern, vorbereitet von Margot Wiesner, ehrenamtliche Leiterin des Stadtschreiber-Archivs seit 2008.

An ihrer Seite führten Doris Marek und Inge Klohoker die Interessierten ein bisschen durch Bergen. Man traf sich an der Verwaltungsstelle in der Marktstraße 30 – hier befindet sich auch das Archiv. Margot Wiesner wollte vor dem Spaziergang noch schnell in die kleine Ausstellung Der schönste Preis, die 2014 zur 40-jährigen Geschichte der Stadtschreiber entstanden war und nun im Flur der Verwaltungsstelle zu sehen ist. Aber alle Interessierten kannten die Geschichte des 1974 von Franz Joseph Schneider initiierten Preises. Also ging es gleich weiter zum Brunnen vor dem Rathaus mit Blick auf das Haus Marktstraße 34. Da hatte früher ein beliebtes Lokal mit Namen „Markt 34“ sein Domizil. Es war die Lieblingskneipe von Wolfgang Hilbig, Stadtschreiber 2001/02. In der DDR hatte er im Braunkohlebergbau gearbeitet, begann 1967 im Zirkel Schreibender Arbeiter mit ersten Texten, stieß allerdings mit seinen Gedichten auf Unverständnis und wurde rasch wieder ausgeschlossen. 1985 gelangte er mit einem Reise-Visum in den Westen Deutschlands. Glücklich wurde er auch im Westen nicht. „Aber er erhielt 2002 den Büchner-Preis – wie einige seiner Stadtschreiberkollegen“, sagte Wiesner.

Die umtriebige Archivarin hatte für die Literaturspaziergänger ein vierseitiges Begleitheft zusammengestellt, der Titel zeigte einen Ausschnitt der geplanten Route, auf der Seite 2 war eine Eintragung Hilbigs ins Gästebuch der Kneipe „Markt 34“ zu lesen. Es folgte ein ungefährer Ablauf der Tour, eine Zeichnung von Wilhelm Genazino und auf Seite 4 die 45 Schilder am Stadtschreiberhaus. So konnte jeder Interessierte die Details nachvollziehen. Oder später auch nachlesen.

Das Alte Rathaus, gefühlt seit vielen Jahren eingerüstet, inzwischen mit Blumen und Kinderzeichnungen an den Schutzwänden verziert, bot reichlich Stoff für weitere Gedanken. Der 1479 angebrachte Fratzenstein, inzwischen im Heimatmuseum untergebracht, war die Vorlage für Robert Gernhardts Gedicht Die Ballade vom Berger Fratzenstein und seinen fatalen Folgen – die Strophen begleiteten die Spaziergänger bis zum Schluss. Gernhardt war 1991/92 Stadtschreiber.

Hinter dem Alten Rathaus, das wohl 2021 fertig saniert werden soll, erinnerte Margot Wiesner an Reinhard Jirgl, Stadtschreiber 2007/08. Der wie Hilbig in der DDR Geborene und aufgrund nicht gesellschaftskonformer Auffassungen zunächst mit Ablehnung seiner Manuskripte Bedachte erhielt 2010 den Büchner-Preis und verzichtet seit 2017 auf Lesungen, Auftritte und Veröffentlichungen. Er schreibt jetzt nur noch für die Schublade.

Weiter ging es zur legendären Gastwirtschaft „Zur Alten Post“, vorher urteilte Margot Wiesner: „Schauen Sie die Marktstraße in Richtung Osten entlang, der Blick ist nicht pittoresk und nicht romantisch. Man kann hier auf vieles verweisen, was es nicht mehr gibt.“ Die „Alte Post“ allerdings gibt es seit 1860. Und sie hat viele Stadtschreiber gesehen. Dieter Kühn, der 1980/81 in Bergen amtierte, schrieb den Roman Die Kammer des Schwarzen Lichts in dieser Zeit, im Buch geht es um „wenig psychiatrische Heilpraktiken“, wie im Heft zu lesen ist.

Über Dragica „Dragi“ Laschitsch, die Wirtin der „Alten Post“, verfasste Angelika Klüssendorf, Amtsinhaberin 2013/14, unter dem Titel Branka einen Einakter, der im Schauspiel Frankfurt im April aufgeführt wurde.

Bis zur 1524 errichteten Nikolauskapelle ist es nicht weit. 1984 wurde sie von der Stadt Frankfurt erworben und nach zehnjähriger Restaurierung als schöner Veranstaltungsraum eröffnet – gerne lesen die Stadtschreiber in der Kapelle.

Nächste Station war das Lebensmittelgeschäft Stoffel, auch das musste anderen Unternehmungen weichen. Doch in den Räumen lagern wohl noch Stadtschreiber-Relikte, unter konservatorischen Gesichtspunkten eine Katastrophe. Peter Bichsel, einer der beliebtesten Stadtschreiber, 1981/82 und fortan immer wieder zu Gast, schrieb über das Geschäft und die fast gegenüber gelegene (und nicht mehr existierende) Gaststätte „Zur Oberpforte“. „Hier in der Nähe stand bis 1869 ein Stadttor“, ergänzte Doris Marek. Von da waren es nur wenige Schritte bis zum Stadtschreiberhaus An der Oberpforte 4. An der Fassade prangen die 45 Schilder mit den Namen der bisherigen Stadtschreiber. Peter Weber, dem das Haus 2004/05 zur Verfügung stand und der seit 2010 Mitglied der Stadtschreiberjury ist, schrieb in Die Schritte der Verliebten über seine Eindrücke.

Weil bei 28 Grad doch keiner so richtig Lust auf weitere ausgedehnte Spaziergänge unter der sengenden Sonne hatte, bot sich der Hof des Hauses mit Erlaubnis des gegenwärtigen Stadtschreibers Clemens Meyer als willkommener Ort für weitere Anekdoten an.

Margot Wiesner erzählte davon, wie der Stadtschreiber-Preis gegen den Widerstand der Bürger durchgesetzt wurde. Über Pläne zu einer Ringstraße gelangte Bergen, das mit Enkheim erst seit 1977 zu Frankfurt gehört, an das Haus An der Oberpforte 4. Als Wolfgang Koeppen zum ersten Stadtschreiber gekürt wurde, musste er noch ein paar Monate warten, bevor er „sein Haus“ beziehen konnte. Damals war es eine karg ausgestattete Bleibe. Peter Härtling, der das Amt 1977/78 inne hatte, pflanzte einen Ginkgo im Garten, der heute das Haus überragt. Uwe Timm berichtete in seiner Abschiedsrede über ein „wanderndes Haus“, das nach seinen Berechnungen im Jahre 4753 wohl den Hang hinunterstürzen werde.

Ingomar von Kieseritzky, der 2006/07 Wohnrecht An der Oberpforte 4 hatte, schrieb über eine unheimliche Begegnung mit einer Mumie auf dem Dachboden des Hauses. Eva Demski, Hausherrin 1988/89, würdigte das Wirken von Helga M. Novak, die 1979/80 Eine frühe Berger Königin war.

Da es im Hof richtig angenehm war und es dort genügend Sitzplätze gab, beschloss man, Thomas Lehr, Stadtschreiber 2011/12 und mehrfach für den Deutschen Buchpreis nominiert, an diesem Ort zu zitieren. Er habe sich in diesem Haus sehr wohl gefühlt, sagte er in seiner Abschiedsrede.

Erstaunt über die Freundlichkeit der Bürger war Peter Kurzeck, der 2000/01 offiziell An der Oberpforte wohnte: „Man wird Stadtschreiber und ist auf einmal ein angesehener Mensch.“

Ein bisschen laufen wollte man dann doch noch, nämlich zum Berger Markt. Vor etwa 300 Jahren wurde dort im Sommer ein Viehmarkt abgehalten, von dem heute nur noch eine Leistungsschau übrig geblieben ist. Aber seit 1974 wird in einem großen Zelt Ende August oder Anfang September der alte Stadtschreiber verabschiedet und der neue begrüßt. Dieses Jahr findet die Feier am Freitag, 30. August statt: Clemens Meyer verlässt Bergen, Anja Kampmann zieht ins Stadtschreiberhaus.

Dieser Literaturspaziergang war die fast letzte Aktion von Margot Wiesner als umsichtige und fachkundige Archivarin. Ende Juni wird sie das Stadtschreiberarchiv verlassen. Ihren letzten Newsletter verschickte Margot Wiesner am Montag, 24. Juni. „Natürlich bleibt der Online-Katalog im Netz unter stadtschreiberarchiv … Wer meine Arbeit ganz oder teilweise, vorübergehend oder dauerhaft übernimmt … wird sich hoffentlich bald klären.“ Wiesner hofft, dass ihre Aktivitäten der letzten zehn Jahren weitergeführt werden: „Das Stadtschreiberarchiv der Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim sollte nicht auf eine bloße Sammlung von Akten, Artikeln und Büchern reduziert werden.“ Genau so ist es.

JF

 

 

 

 

 

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