Unter der Überschrift „Wieder Antisemitismus – Worte wider den Antisemitismus“ lasen gestern Abend neun jüdische und nichtjüdische Autorinnen und Autoren aus eigenen Werken und aus Texten, die sie eigens für die Solidaritätsveranstaltung in der Staatsbibliothek zu Berlin ausgesucht hatten.
Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und der darauffolgenden starken Welle des Antisemitismus hatten die meisten Kulturinstitutionen zunächst geschwiegen. Mit dem gestrigen Abend setzten die Veranstalter und die Teilnehmenden ein starkes literarisches Zeichen der Solidarität. Initiiert vom Jüdischen Verlag Berlin wurde die Veranstaltung gemeinsam von der Staatsbibliothek zu Berlin, dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels und dem Landesverband Berlin-Brandenburg organisiert. Und der enorme Zuspruch bestätigte die Veranstalter. Die Berlinerinnen und Berliner hatten offensichtlich solch eine Gelegenheit zur Solidarität, Begegnung und gemeinsamen Reflexion vermisst, denn die Veranstaltung im Otto-Braun-Saal, in dem 500 Menschen Platz finden, war bereits im Vorfeld ausgebucht. Ein gut bestückter Büchertisch von Buchlokal lieferte zusätzliche Anregungen für vertiefende Lektüre.
Höhepunkt des Abends war eine Live-Schaltung zu Ofer Waldman. Der israelische Autor und Musiker, der sich derzeit bei seiner Familie im Norden Israels aufhält, sagte im Gespräch mit Thomas Sparr, dem Leiter des Jüdischen Verlags im Suhrkamp Verlag: „Wir atmen nicht. Seit dem 7. Oktober laufen wir mit angehaltenem Atem.“ In dem berührenden Gespräch gab es jedoch auch einen Hoffnungsschimmer. Obwohl der 7. Oktober immer präsent sei, werde Leid und Zerstörung eines Tages enden, so Waldman. „Aber wann, kann ich nicht sagen.“
Gemeinsam mit Sasha Marianna Salzmann las Ofer Waldmann anschließend aus dem Blog Gleichzeit, in dem die beiden ihre Eindrücke, Erfahrungen und Beobachtungen nach dem Hamas-Terrorüberfall auf Israel für die Klassik Stiftung Weimar festhalten, ein lesenswerter Blog, der als literarischer Dialog zwischen Israel und Mitteleuropa konzipiert ist. Ganz still wurde es im Saal als die beiden abschließend das Gedicht Gott voller Erbarmen des deutsch-israelischen Lyrikers Jehuda Amichai vorlasen, dessen 100. Geburtstag wir im nächsten Jahr feiern.
„Auch mit Süßigkeiten kann man Grausamkeiten begehen“, so beginnt der Text, den der Journalist und Autor Dmitrij Kapitelman las. Jubel für die Hamas. Hass und Honig ist eine Reportage, die er wenige Tage nach dem 7. Oktober für Die Zeit geschrieben hat, nachdem auf der Berliner Sonnenallee mit Baklava gefeiert wurde. Auch Noam Petri, der Vizepräsident der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, ging im Gespräch mit Moderatorin Katharina Teutsch auf die schockierenden Ereignisse in der Sonnenallee ein. Die Tatsache, dass auf deutschen Straßen mit Baklava gefeiert wurde, wie man es sonst nur aus arabischen Ländern kennt, belege, dass sich der Hass auf Jüdinnen und Juden in der Gesellschaft bereits so festgesetzt habe, dass keine Angst mehr besteht, ihn öffentlich zu äußern. Der Antisemitismus grassiere in Deutschland nicht erst seit dem 7. Oktober und werde zunehmend zur Bedrohung, so Petri.
Zum Abschluss des Abends trug Marion Poschmann Gedichte von Shimon Adaf vor. Außerdem lasen Marcel Beyer, Tomer Dotan-Dreyfus, Deborah Feldman, Necati Öziri, Geraldine Schwarz und Tanja Dückers. Sie wird auch heute Abend dabei sein, wenn in der Berliner Volksbühne die Veranstaltung „Schriftsteller:innen und Fotograf:innen gegen Antisemitismus“ ein weiteres Zeichen der Solidarität setzt.
ml
Man hätte ja gern gewusst, wann und wo genau das staatfindet.