Christian Döring, der die letzten 12 Jahre die Andere Bibliothek herausgegeben hat und ein Granat der Kontinuität beim Wechsel der Bibliothek von Eichborn zum Aufbau Verlag war, ist zum 30. Juni ausgeschieden. Sein langjähriger Mitarbeiter, Ron Mieczkowski, hat beiliegende Abschiedsrede verfasst.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lieber Christian,
ich habe hier so einige Reden gehört von dir, die du mit den Jahren auf andere gehalten hast: Gleich als erstes erinnere ich mich an eine Rede auf den damals scheidenden „Zahlmeister“ Ralf Alkenbrecher, auch Katrin Jacobsen, unsere Herstellungsleiterin, hast du verabschiedet, zuletzt auch mich als Lektor. Ich weiß nicht zu sagen, welche der Reden größeres Lachen ausgelöst hat – unterhaltsam waren sie alle, Unterhaltsamkeit, das konnte ich bei dir lernen, gehört zu den ersten Qualitäten… Jetzt aber rede ich: Und ich muss sagen, es ist eine Wohltat, einmal sprechen zu dürfen, – dich jetzt zuhören zu sehen, hach, das ist eine Wohltat.
Es gibt offenbar ein Bedürfnis, sich darüber klar zu werden, was die letzten gut zwölf Jahre „Andere Bibliothek“ eigentlich waren, was sie bedeuten – den Eindruck zumindest kann man haben, wenn man neuerdings liest, wie nun (so im Editorial der Herbstvorschau der Anderen Bibliothek) „der Horizont der Anderen Bibliothek wieder so weit aufgespannt werden soll“, wie man es „aus ihren Anfängen“ kennt – ach so. Aus unberufenem Munde (unberufen, weil man sich nicht zu viele Gedanken machen sollte über Dinge, denen man selbst beigewohnt hat), also nur ein kurzer Hinweis: Schauen Sie, schaut Euch das Programm der letzten elf, zwölf Jahre an und urteilt selbst. Ich meine: Hier sind zum „besonderen“ Buch, für das Hans Magnus Enzensberger mit Greno zusammen die größten Anwälte waren, der Sympathie fürs literarische Experiment, auch fürs Debüt, mit Christian Döring noch ein ganz eigener Schlag von Weltläufigkeit hinzugekommen – einer aus Lebenserfahrung stammender, bei dem der Bücherfund auf dem Flohmarktstand einer fernen Stadt vermutlich nicht weniger wichtig war als eine profunde, uferlose Belesenheit.
Ein Hinweis mag mit dem letzten Band des laufenden Programms gegeben sein, mit dem zugleich Christian Dörings Herausgeberschaft der über 150 Bände beschlossen wird. M.P. Shiels „Die Purpurne Wolke“, dieser im ganz Enzensberger`schen Sinn außerkanonische Science-Fiction-Klassiker, wird nicht zum ersten Mal wiederentdeckt: Wenn wir nach Italien blicken wollen (Italien neben Frankreich zweifellos der wichtigste Inspirationsraum für Christian), und dazu noch den Katalog jenes Verlags aufschlagen, der so vieles mit der Anderen Bibliothek gemein hat, Adelphi, entdecken wir ihn wieder: Als „La nube purpurea“ wurde er 1967 als dreizehnter Band der Biblioteca Adelphi aufgenommen. Ein „Libro Unico“, aufgenommen in die Reihe singulärer Bücher. „Libri unici“ – das sind die Bände der Anderen Bibliothek bei Christian Döring immer gewesen. Und wenn sie es nicht hätten werden können – dann sind sie nicht erschienen.
Aber lassen wir diese programmatischen Fragen, Erörterungsmasse für andere, endlich beiseite: Werfen wir einen Blick zurück, gleichsam ins Büro von Christian Döring (berühmt, berüchtigt für seine Ordnung, in Frankfurts Suhrkamp Verlag war, so geht das Gerücht, einmal ein Fernsehteam zu Besuch, es drohte der Einsturz eines Bücherstapels). Wir werfen den Blick gleichsam zurück, denn gleichsam ist ein Lieblingswort von Christian. Er achtet dabei jedoch auf kluge Trennung der Bereiche: Als ich einmal einen seiner Herausgeberbriefe, ja, sagen wir: lektorierte, dachte ich mir: ach, hier, in diesen Satz, passt doch ein „gleichsam“ ganz wunderbar hinein. Der Brief wurde retourniert, Christian quittierte meinen Korrekturvorschlag durch die den Raumtrenner – ihr wisst ja, wie wir saßen, zwischen unseren Schreibtischen das Bücherregal, durch die Löcher in den Reihen unterhielten wir uns, ich reckte meinen Kopf dorthin, wo sich zwischen Fontane-Gesamtausgabe und Sonderausgaben der Anderen Bibliothek eine Lücke ergab – er quittierte meine Korrektur also mit dem Satz; „Gleichsam ist dem Mündlichen vorbehalten.“ Und in der Tat, er hat das Wort vermutlich nie geschrieben, zumindest nicht in den letzten sieben Jahren.
Ihr merkt, es braucht ein paar Schrullen, nennen wir es: Charakter, Individualität, für das, was Christian Döring ausmacht. Dieser Charakter ist nicht lau, er ist immer nur heiß oder eiskalt, ich als Katholik weiß: die Lauen kommen in die Hölle, um dich steht es also ganz gut, lieber Christian. Was braucht es noch, für diese einzigartige, manchmal eigenwillige Person: Wohlwollen, geradezu Güte. Was das heißt? Ich versuche es so – nicht die großen Namen interessierte Christian Döring, die natürlich auch, aber nicht in einer Weise, die schädlich wäre –
Es war einmal … ein Programmplatz zu füllen, ein Buch musste her: Da zauberte, ja, zauberte, es hatte etwas Magisches, Christian eine zweieinhalb Jahre alte Email hervor: ein Übersetzer, der eigentlich keiner war, hatte ein Buch vorgeschlagen, es passte alles ganz wunderbar – aber da war dieser eine Makel: der Mensch hatte bisher nichts übersetzt – ich war skeptisch, wie kann das sein, wir, die AB, die sich auf ihr Renommée bei Übersetzungen etwas einbildet … ich hatte zu mäkeln, die übermäßig kritische Haltung ist mit den Jahren mit Christian vielleicht kleiner geworden, er war sich sicher: Der Enthusiasmus dieses Menschen war genug, um eine Wette aufs Gelingen abzuschließen. Wer die kurzen Produktionszyklen bei uns kennt, wird wissen, was das bedeute: Zwei Wochen später wurde die Vorschau gedruckt, der Band wurde da schon angekündigt. Was Christian vorlebte, auch damit, war Großmut: Für derlei braucht es Großmut, und Großmut, das weiß ich heute, kann man erst in vielen Jahren lernen, es ist keine Charaktereigenschaft, so glaube ich zumindest, die einem auf den Weg gegeben wird, man erwirbt sie sich – und Großmut, auch das weiß ich heute, erkennt man intuitiv, auch durch die Filter von Verlagsvorschauen, man erkennt sie hinter Herausgeberbriefen, hinter U4-Texten, hinter einem Editorial – Großmut ist es, die junge Menschen spüren, die sie zu Kühnheiten ermuntert, dazu, ihr Glück zu versuchen…
Wer großmütig ist, muss nicht unbedingt gerecht sein: Christian ist es. Eine gewisse Strenge kann man ihm nicht absprechen, es geht auch manches drunter und drüber mit ihm, schauen wir nochmal ins Büro, dort ist es gleichsam greifbar, man kann sich mit ihm auch streiten, oder eher: man streitet sich eher mit ihm, denn er streitet nicht zurück, das ist echte Autorität … Er vergisst manches Mal auch etwas, aber eines ist nie geschehen: Dass er das Versäumnis eines Anderen, das auch seines hätte sein können, hochgehangen hätte – das erlebt man bei ihm nicht. Strenger mit sich zu sein als mit anderen, das klingt fast wie eine philosophische Haltung – aber genug der großen Worte, rührselig wollte ich jetzt nicht werden, nicht zuletzt, weil dieser Abschluss gar kein Ende, sondern ein heiter Neuanfang ist:
Am Telefon klagt Christian in letzter Zeit. Er hätte viel zu tun. Das ist natürlich keine Klage im strengen Sinn, sondern Ausdruck bester, vitalster Auslastung – warst du, lieber Christian, vor einem Jahr ungefähr oder noch vor einem halben etwas nachdenklich, hast du jetzt gut zu tun. Es geht weiter für dich, dein Versprechen an uns, aber vielleicht vor allem an dich selbst, dass Du weiter Bücher machen wirst, nun erst einmal für die „Friedenauer Presse“, löst du ein. Vor einem aber muss man sich nicht fürchten, dazu noch eine letzte Abschweifung: Es droht dem Menschen ab einem gewissen Alter ja, auf Neues, auf die jüngeren Generationen etwas skeptisch zu schauen. Redakteure etwa beginnen manchmal, Unsinn in die Zeitungen zu schreiben. Du bist, und das meine ich ehrlich, lieber Christian, einer der sehr wenigen deiner Generation, dem das nicht droht: Wohlwollen, Güte – ich sagte es. Keine Querelen der letzten Jahre haben das getrübt – und so wirst du weiterarbeiten, reisen und für uns da sein. Darauf freue ich mich.
Christian Döring – eine der letzten »Instanzen« der deutschsprachigen Bücherlandschaften. CD hat mit der Programmarbeit für die AB, zu unserem Leser- und Leserinnenglück, sich nicht am Horizont orientiert, den andere gerade noch als Grenze ihres Vorstellungsvermögens zu nennen die Tinte haben; CD hat dem Schiff, das immer ein Buch, jedem Schiff unter Segeln, erst nach seinem Verschwinden hinter dem Horizont hinterhergespürt, gewartet, bis die Imagination zum Horizont geworden, bis die untergehende Sonne und das letzte Flirren der Luft das Licht der ‚ora blu‘ hervorgebracht haben, um dann, zu Chet Bakers ‚Time after Time‘, – kenne ich einen grösseren Liebenden unter den Büchermenschen als CD? – Bücher ’seiner‘ anderen Bibliothek zu erfinden; ein Jean Paul der Verlegerei, ein Entdecker und Weltenreisender, uns Welten und kosmisches Rauschen Schenkender. Millemercis et à bientôt.
Apropos Übersetzung: Selbst die gelungenste Übersetzung kann durch ein kluges Lektorat nur gewinnen. Das habe ich erlebt. Mit beiden, mit Ron Mieczkowski und mit Christian Döring. Nie geschmäcklerisch, immer besonnen, und selbst das gelegentlich energische Wort mit Warmherzigkeit vorgebracht. Toleranz prägte das Tun. Dreimal haben sich so drei eigensinnige Köpfe aus Anlass eines Buches zusammengefunden, und dabei ist ganz sacht etwas gereift, das jenseits von Buchdeckeln kostbar und jenseits von Verlagen von Bestand ist. Auch so kann es mit viel Glück kommen.
Als langjähriger Leser (seit 1985) der Anderen Bibliothek nehme ich die aktuelle Selbstbeschreibung dieser exquisiten Edition mit einigem Befremden zur Kenntnis. Man will also, so erfahren wir, »den Horizont der Anderen Bibliothek wieder so weit aufspannen, wie wir es aus ihren Anfängen kennen«. Soll damit suggeriert werden, ich als Leser hätte – freilich ohne es zu merken – über viele Jahre hinweg in einer Art Interregnum gelebt bzw. gelesen? Da erstaunt es dann auch nicht sonderlich, dass Christian Döring und seine außer Frage stehenden Verdienste um die AB mit keinem Wort (mehr) erwähnt werden. Nun, eine solche »damnatio memoriae« hat es bereits zur Zeit der Pharaonen gegeben – und sie hat schon damals nicht funktioniert. Wir dürfen also beruhigt sein. Ungleich beunruhigender hingegen wirkt der Umstand, dass es den neuen Herausgebern an Umgangsformen zu fehlen scheint. Dieses Manko lässt sich schwerlich durch dreiste Unterstellungen wettmachen.