Im Februar hat Wolfgang Schiffer im ELIF Verlag seinen Gedichtband „Dass die Erde einen Buckel werfe“ herausgebracht. Gab es in Corona-Zeiten Resonanz? Das war eine der Gründe für Fragen an den langjährigen WDR-Hörspielchef, der heute als Dichter, Übersetzer, Herausgeber und weiter auch als Hörbuchsprecher arbeitet.
Zuerst meine Standardfrage: Worum geht es genau in Deinem Band Dass die Erde einen Buckel werfe?
Wolfgang Schiffer: Es geht über weite Strecken um Erinnerung, Erinnerungen an die Kindheit, an die Eltern, an die einst gemeinsame Sprache, an die sozialen Verhältnisse, die den Erzähler ebenso geprägt haben wie die Landschaft, die das niederrheinische Dorf, in dem er aufgewachsen ist, umgibt. Aus der Erinnerung erwächst aber auch etwas sehr Heutiges: Eine Klage über die Gier des Menschen, über die Zerstörung der Erde und den Verlust des Miteinanders von Natur und Mensch.
Das hört sich melancholisch an …
… ist aber eher verzweifelte Suche nach Wörtern, nicht unähnlich einem Appell, der eine Umkehr der Menschen von ihrem Tun und Unterlassen bewirken könnte.
Immer wieder ist eine „Wochenkarte“ – also, was es zu essen gab – eingeblockt: Hochsprachlich und in „muttersprachlicher Rekonstruktion“. Aus Koloritgründen?
Weißt Du, als Kind, da habe ich wie meine Eltern nur den spezifischen niederrheinischen Dialekt unseres Dorfes gesprochen, das Hochdeutsche war unserer Familie eigentlich völlig fremd. Und diesen Dialekt, also unsere gemeinsame Sprache, hat man mir in der Schule dann mit Lineal und Bambusstöckchen ausgetrieben (und auch ein wenig durch soziale Ausgrenzung, indem bestimmte Kinder, die ich in der Schule nun kennenlernte, nicht mit mir spielen durften). In der Folge kann ich diesen Dialekt heute nicht mehr sprechen.
Tut das weh?
Ich empfinde das als großen Verlust, der Dialekt gehört eigentlich zu mir, denn er war schließlich prägend für meine ersten Sozialisationsschritte. Zu versuchen, mir diese Sprache wieder in Erinnerung zu rufen, und das anhand dessen, was gegessen wurde – der Grundlage allen Seins und zugleich Ausweis der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen man lebt – das war mirsehr wichtig und treibt mich bei meinen Gedichten an.
Ich hatte nach der „Wochenkarte“ gefragt …
… die dem Band eine Struktur gibt, gibt sie doch sieben Tage vor, um die sich des weiteren sieben Prosaskizzen und sieben teils längere Gedichte gruppieren. Und was sich alles um die Zahl „sieben“ rankt, möge ein jeder für sich selbst festlegen; da kommt es sehr darauf an, welcher ihrer Sonderstellungen in welcher Kultur oder Religion man zugeneigt ist.
Du sprichst von Gedichten … der Buchhandel tut sich ja eher schwer damit. Gibt es Deiner Meinung nach einen typischen Gedichteleser? Und wenn ja, wie sähe der aus?
Oh, das weiß ich nicht, also, wie er aussähe. Aber es gibt sie, die Literaturbegeisterten, die auch viel und gerne Lyrik lesen. Und das nach meinem Eindruck in zunehmendem Maße.
Ich fange auch wieder an mich für Gedichte zu begeistern, bei mir war der letzte Gedichtband von Michael Krüger dafür der Auslöser.
Bei vielen anderen haben womöglich der Leipziger Buchpreis an Jan Wagner für dessen Gedichtband Regentonnenvariationen oder der Deutsche Buchpreis an Anne Weber für das Langgedicht Annette, ein Heldinnenepos das Genre ein wenig publikumsfähiger gemacht.
Kommt das wirklich beim Buchhandel an?
Ja, auch im Buchhandel gibt es erste zarte Anzeichen für eine Aufwertung der Lyrik. So nimmt der Umfang des Angebots doch auch in einigen ausgewählten Buchhandlungen zu, bisweilen sogar flankiert von regelrechten Poesiefesten, wie z.B. bei Müller und Böhm in Düsseldorf.
Das hört sich noch nicht nach Feuerwerk an.
Ich rede ja auch von zarten Pflänzchen wie diesem: In Berlin-Schöneberg etwa hat Juliane Ziese mit LYRIGMA zu Beginn dieses Jahres eine Buchhandlung eröffnet, deren Sortiment Lyrik sogar in den Mittelpunkt stellt.
Mein Eindruck bleibt: Beim Gros der Buchhandlungen scheint es bei Gedichten noch Berührungsangst zu geben.
Stimmt und stimmt nicht. Ich war letztlich in Freiburg, da hatte am Abend im dortigen Literaturhaus der einen Tag zuvor im Nachbarort Staufen frisch gekürte Peter-Huchel-Preisträger, der Dichter und Verleger Dinçer Güçyeter, eine Lesung; bis auf die Buchhandlung, die abends den Büchertisch gemacht hat, gab es in keiner anderen Buchhandlung, die ich tagsüber besucht habe, diesen Band zu kaufen – und auch kein sonstiges Angebot zeitgenössischer Lyrik. Wenn es überhaupt ein Regal für Lyrik gab, so fanden sich dort ein paar Klassiker, Anthologien zu allen möglichen gängigen Themen wir Jahreszeiten, Liebe und Verlust, vielleicht noch Gottfried Benn und immerhin Mascha Kaléko.
Dieses Bild ist mir aus vielen Städten vertraut.
Ich verstehe das auch, auf Nachfrage höre ich als Argument meist: Gedichte verkaufen sich nicht.
Buchhändler sind keine Missionare.
Natürlich, eine Buchhandlung muss Gewinn machen, und die Aussichten auf eine respektable Höhe sind bei Lyrik zweifellos geringer als bei werbe-gepushter Bestseller-Stapelware. Doch glaube ich meinem Verleger im ELIF Verlag, in dem mein „Buckel“, über den wir hier sprechen, erschienen ist (und vorher bereits mehrere Übersetzungen zeitgenössischer isländischer Poesie), und ich habe keinen Anlass, ihm nicht zu glauben, so ist der Umsatz seines ausschließlich auf Lyrik abgestimmten Programms im verlagseigenen Web-Shop gar nicht mal so schlecht. Belegt ist dies auch durch so manche seiner Publikationen, die längst mehrere Auflagen erfahren haben. Da wünscht man sich als Autor doch, dass auch der Buchhandel in Bezug auf Gedichte noch etwas mutiger werden würde.
Was meinst Du mit mutiger?
Was der Lyrik fehlt, solange sie nicht in den Regalen und Auslagen der Buchläden steht, ist die Sichtbarkeit, eine größere Sichtbarkeit jedenfalls. Und Sichtbarkeit würde sicherlich auch den Umsatz steigern. Ich komme auch gern zu Lesungen und stelle mich!
An einer Stelle in deinem Buch heißt es: „gäbe es doch das Wort / das eine neue Weltordnung schüfe“. Gerade wird wieder sehr an der bisherigen Weltordnung gerüttelt. Glaubst Du noch an die Macht des Wortes?
Diesen Glauben völlig aufzugeben, hieße ja nicht nur, konsequenterweise den Beruf des Schriftstellers und Übersetzers usw. an den Nagel hängen zu müssen, sondern unter Umständen gar das Ende jeglicher Möglichkeit menschlichen Zusammenseins. Anderseits tut man vieles, also glaubt man auch vieles, trotz besseren Wissens. Ein gehöriger Zweifel ist also schon da. Doch des ungeachtet daran zu erinnern, welche verheerenden Folgen der Verlust der Macht des Wortes hat, das ist und bleibt meines Erachtens allerdings immer eine der Kernaufgaben – und der besonderen Leistungen von Literatur.
An anderer Stelle heißt es: „die Psychopathen politischer Macht / zu entmachten / die all dies schamlos befördern im Interesse ihres Machterhalts“ – das könnte auf die aktuelle Situation gemünzt sein. Ist kein Kraut gegen solche Psychopathen gewachsen?
Falls Du vermutest, dass ich damit den brutalen Krieg, mit dem Russland die Ukraine überzieht meine, so muss ich sagen, dass die Texte des Buches früher entstanden sind. Das heißt, diese Passage meiner „Klage“ bezieht sich auf einen Zustand, der aus meiner Sicht immer schon geherrscht hat, und jetzt nur, auch durch die Nähe der Gefährdung von uns selbst, besonders evident geworden ist. Den Widerstand gegen derlei Machtbesessene scheint dies aber nur bedingt erhöhen zu können, jedenfalls in den Ländern, in denen sie herrschen. Da ist schon ausreichend Vorsorge getroffen, dass er sich nicht entfalten kann. Und die restliche Welt, die die Zustände hier und da kritisiert und auf Änderung drängt, verdient an Waffengeschäften. Die Weltgeschichte zeigt mir nicht unbedingt, dass hier ein Kraut gewachsen wäre, auch wenn ich es mir noch so sehr erhoffte.
„warum muss uns erst ein Virus zeigen / wie unerwünscht und überflüssig wir auf dieser Erde sind?“ – da klingt Resignation durch.
Ja. Doch wie gesagt, wider besseres Wissen tut man so manches, und so bleibt man doch auch ein Quäntchen hoffnungsfroh. Auch spielt – neben der mal freudigen, mal schmerzvollen Erinnerung an das Heranwachsen – wohl Wut eine große Rolle beim Zustandekommen dieses Buches, – und solange man zur Wut noch fähig ist, hat man noch nicht gänzlich resigniert.
Dein Buch ist vieles: Autobiographie, Hommage an die Eltern, Beschreibung eines unguten Weltzustandes. Worauf kam es Dir ganz besonders an?
Es würde wohl dem Eindruck, den das Buch bei Leserinnen und Lesern hinterlässt, widersprechen, wenn ich behaupten würde, dass es nicht die Hommage an die Eltern sei. Aber tatsächlich ist der Versuch gewesen, all dies, das Tun und Wesen der Eltern, das Besondere der Landschaft, die sie umgeben hat, meine späte Wertschätzung für sie, in Balance zu bringen mit dem, zu dem ich geworden bin, wie ich von heute aus meine Kindheit sehen kann und zugleich begreife, warum ich über unsere Gegenwart so denke, wie ich es tue.
Wem also könnte ein/e BuchhändlerIn Deinen Band mit welchem Argument am besten verkaufen?
Eigentlich einem jeden … allerdings mit unterschiedlichen Argumenten. Ein älterer Kunde, der sich möglicherweise gar nicht so sehr für die literarische Machart eines Werks interessiert, den – so auch viele Rückmeldungen auf die Lektüre – lässt es eigenes Erleben aus Kindheit und Jugend noch einmal präsent werden und über das, was seine persönliche Entwicklung geprägt hat, nachdenken; jüngere Kunden regt es an, einen vielleicht neuen Blick auf ihre Eltern zu werfen – und den dezidiert literarisch Interessierten, der findet vielleicht Gefallen an Sprache und Form, – auch diesbezüglich habe ich von LeserInnen und RezensentInnen Entsprechendes erfahren dürfen. Am meisten aber hat mich eine Reaktion beeindruckt: Da schreibt eine Leserin: „Ich habe gelesen, geweint (auch vor Glück) und es sehr gemocht.“ Das habe ich so verstanden, dass das Buch wohl Seele und Geist (oder Verstand) gleichermaßen anzusprechen vermag, und was mehr könnte man sich wünschen von einem Stück Literatur?
Die Fragen stellte Christian von Zittwitz