An der Spitze der Krimibestenliste Juni 2017 (hier zum Ausdrucken) finden Sie weiter auf Platz 1:
Suff und Sühne von Gary Victor
Suff und Sühne ist der dritte Roman um den einsamen Inspektor Dieuswalwe Azémar, der auf Deutsch erschienen ist. Schweinezeiten (2013) und Soro (2015) haben zwei noch nicht übersetzte Vorläufer – hoffen wir, dass wir sie noch lesen können.
Wer den 1958 in Port-au-Prince geborenen Gary Victor auf seiner Deutschlandtournee im März kennenlernen durfte, weiß jetzt, wie man den Vornamen seines verzweifelten Helden aussprechen muss: Dieuswalwe ist die kreolische Schreibweise für „Dieu-soit-loué“ – Gott sei gelobt. Wer nach Schweinezeiten und Soro geglaubt hat, Haiti oder sein einziger unkorrumpierbarer Polizist könnten nicht mehr tiefer sinken, sieht sich eines besseren belehrt. Dieuswalwe ist auf Entzug, ihm ist der Soro, sein einziger Trost, genommen. Die Frau, die neben Taranteln in seiner Absteige auftaucht, ist keine Entzugserscheinung. Mit Fotografien beweist sie, dass Inspektor Azémar ihren Vater, einen brasilianischen General der UN-Mission MINUSTAH, erschossen hat. Sie will Rache, Dieuswalwe flieht angeschossen, sie wird von brasilianischen Milizionären mit eigener Agenda erschossen. Dieuswalwe begibt sich auf einen Höllentrip in seine Vergangenheit, verfolgt von den Milizionären und seiner eigenen Truppe. Er stößt auf Intrigen und Verschwörungen, die ahnen lassen, warum Haiti unter UN-Kuratel gestellt werden musste, um nicht völlig in der Karibik zu versinken. Wie immer verknüpft Gary Victor Tatsachen (tatsächlich ist der Tod des brasilianischen MINUSTAH-Kommandanten Urano Teixeira da Matta Bacellar 2005 ungeklärt, hierzu ein Dossier der taz: www.taz.de/Inspektor-im-Delirium ) virtuos mit Fiktion. Nur mit Hilfe eines Schutzzaubers kann Dieuswalwe seinen Widersachern entkommen und die Entführung eines Unternehmersohns aufklären. Die letzten Sätze lassen nichts Gutes ahnen: Mireya, seine geliebte Adoptivtochter sitzt im Flugzeug, dass sie weg von Haiti bringen wird. „Seine Liebe zu Mireya war sein einziges Bollwerk gegen den Todestrieb gewesen, der ihn bedrängte.“
„Gary Victor taucht mit seinem kraftvollen, kreolischen Erzählen recht ausgelassen die Klassiker der Weltliteratur in karibische Farben. Wie seine anderen Romane auch, ist „Suff und Sühne“ nicht länger als hundertfünfzig Seiten. Doch darin steckt so viel Sinnlichkeit, Sehnsucht und Schönheit wie in einer ganzen Kiste Soro. Bei aller Bitternis sind die Romane reiner Genuss, ganz ohne Reue.“ (Thekla Dannenberg, Perlentaucher)
„Keine Frage: einer der interessantesten Autoren der internationalen Krimilandschaft derzeit.“ (Ulrich Noller)
Neu auf der Krimibestenliste Juni sind insgesamt drei Titel. Diesmal sind es je 1 amerikanischer 1 irischer und 1 deutscher. Zwei Autoren, eine Autorin.Mit zusammen 1108 Seiten. Neu sind:
Auf Platz 2: Auf der Jagd von Tom Bouman
Tom Bouman ist amerikanischen Autoren schon länger bekannt. Sieben Jahre war er Lektor, zuerst bei Houghton Mifflin Harcourt und dann bei den auf Science fiction und Fantasy spezialisierten Orbit Books. Als Autor trat der 38-Jährige erstmalig mit Auf der Jagd in Erscheinung. Das schlug ein. Für seinen neuen rauen Ton im von ihm als „Rural noir“ bezeichneten Subgenre wurde er 2015 mit dem Los Angeles Times Book Prize und dem Edgar Award for Best First Novel ausgezeichnet. Inzwischen hat er nicht nur eine Juristenausbildung beinahe abgeschlossen, sondern auch den zweiten Band Fateful Mornings mit seinem schweigsamen, aber schlagkräftigen Helden Henry Farrell vorgelegt.
Farrell ist der Ich-Erzähler, und das ist gut so. Denn seine vorsichtigen, behutsamen Überlegungen über die selten beschriebene und auch nicht genau lokalisierbare Ecke in Pennsylvania, der Bouman den Ortsnamen Wild Thyme gegeben hat, tragen viel zur halb explosiven, halb geruhsamen Atmosphäre dieser bedrohten Landschaft bei. Als der Schnee schmilzt, taucht eine Leiche auf, kurz darauf wird Farrells Deputy tot in seinem Wagen aufgefunden. Gewalt ist die Sprache, die die Hinterwäldler als erste sprechen, noch bevor sie Lesen und Schreiben und Musizieren (fast alle stammen von irischen Einwanderern ab) gelernt haben. Man schlägt sich durch, mit einem bisschen Tourismus für wohlhabende Städter, mit Meth-Kochen und -Verticken, Wilderei und Diebstahl. Und mit der Frage, ob man an die alle Verhältnisse durchwühlende Fracking-Industrie verpachten soll.
„Dass es sich bei dem vor drei Jahren erschienenen Auf der Jagd um ein Debüt handelt, ist kaum zu glauben – so sprachlich sorgfältig, atmosphärisch dicht und abgrundtief melancholisch gearbeitet ist dieses Buch.“ (Hannes Hintermeier, Frankfurter Allgemeine Zeitung)
Auf Platz 7: Rain Dogs von Adrian McKinty
In seiner mehrfach ausgezeichneten Serie um den „katholischen Bullen“ Sean Duffy unternimmt Adrian Mckinty (*1968 in Belfast) den Versuch, die Geschichte der nordirischen „Troubles“ als Kriminalroman ins Erinnerung zu rufen. Es ist eine Großerzählung irischer Widersprüche mit einem Helden, der selbst viele davon verkörpert. Die Serie setzte 1981 mit den großen Hungerstreiks ein, jetzt haben wir 1987. Sean Duffy hat Bombenanschläge, Intrigen, Geheimdienstmanöver überlebt und wird, so das Noir-orientierte Leser verstörende Ende, sogar Vater werden. Das unterscheidet McKintys Erzählung von der anderer nordirischer Autoren: Er verschweigt keine Grausamkeit, keinen politischen oder kriminellen Irrsinn des Bürgerkriegs, lässt aber am Horizont durchscheinen, was den Beteiligten damals nicht klar sein konnte: Es wird Frieden geben.
Im fünften Band, Rain Dogs, wird dies in der gemächlichen und beinahe klassischen Erzählweise deutlich. Die tote Journalistin im Hof von Carrickfergus Castle muss Selbstmord begangen haben, allein schon deshalb, weil einem Polizisten in seinem Dienstleben nicht zwei Mal ein „Locked-Room-Mystery“ begegnen kann. Aber wie der schlaue DC Lawson weiß, gibt es das Bayes’sche Theorem, das auch Unwahrscheinliches erklärt. Und das ist es, was ansatzweise herauskommt: Hinter dem Ganzen steckt ein internationales Netzwerk von Kinderschändern, dessen Umtriebe und Beschützer in Polizei und Politik bis heute (2017) nicht völlig aufgedeckt sind.
„Irlands und Ulsters Geschicke ‚am Rande des untergehenden British Empire‘ lassen sich, so denkt Duffy, nur als ‚absurdes Drama‘ sinnvoll erzählen. Globalisierung, Bürgerkrieg und gar nicht so schlichter Mord – McKinty packt dies in beinahe klassisches Krimiformat. Mit dem Unterschied, dass Erkenntnis und Wiederherstellung von Ordnung so selten sind wie Rihm-Kenner in Nordirland.“ (Tobias Gohlis, DIE ZEIT)
Auf Platz 9: Alles so hell da vorn von Monika Geier
1999 betrat Bettina Boll, alleinerziehende Mutter der Kinder ihrer verstorbenen Schwester, Kriminalkommissarin mit halber Stelle, die literarische Bühne und weckte sofort Interesse. So frisch, unverstellt und verspielt war im deutschen Kriminalroman lange niemand mehr gestartet. Monika Geier (Jahrgang 1970) erhielt gleich den (heute leider nicht mehr vergebenen) Marlowe für ein viel versprechendes Debüt. Jetzt, sechs Boll-Romane und einige literarische Seitensprünge später, zeigen sich Autorin und Figur in Bestform. Alles so hell da vorn verbindet zwei Erzählungen: Die Suche nach einem (wie im Fall Peggy Knobloch) verschwundenen kleinen Mädchen mit der Suche nach Identität einer Frau, die als Kind in die Zwangsprostitution und die dazu gehörende Männerwelt geraten ist. Das Großartige an diesem Buch ist, dass Geier die Zusammenhänge herstellt, aber nicht restlos aufklärt. Die Geheimnisse dieser Form der Gewalt sind wohl – selbst mit so intrikaten literarischen Mitteln, wie in diesem Fall – nicht vollständig erklärbar. Aber neben den bösen (aber nie als Monster gezeichneten Männern) gibt es bei Geier wie im Leben auch die bösen (nie als Monster gezeichneten) Frauen. Fürchte sich, vor wem er kann.
„Im Hintergrund lauert drohend und finster die Feigheit der Provinz, und die Lösung bleibt moralisch notwendig unbefriedigend. Monika Geier beherrscht alle Register: Action und Einfühlung, Satire und tiefere Bedeutung, grandiose Personenzeichnung und elegante Sprache, Pirmasenser Dialekt inbegriffen. Ein selten guter Kriminalroman. Er hat das Zeug zum Bestseller.“ (Tobias Gohlis, DLF Kultur)
Unsere Dauerchampions: Zum vierten Mal steht Jérôme Leroy mit Der Block auf der Krimibestenliste, zum dritten Mal sind Wallace Stroby mit Geld ist nicht genug und Marlon James mit Eine kurze Geschichte von sieben Morden dabei.
Die Krimibestenliste Juni wurde am Sonntag, den 4.6.2017 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gedruckt veröffentlicht, und ist online wiederzufinden unter www.faz.net/krimibestenliste und www.deutschlandfunkkultur.de/krimibestenliste (ab Montag). Unter diesen Webadressen finden Sie immer die aktuelle Krimibestenliste.