„Frau Kapitän – Aus Liebe zum Meer“ heißt der Roman von Grete de Vries, der dieser Tage erscheint (dtv). Sie erzählt darin die Geschichte einer Tochter aus gutem Hause, die von einer tiefen Leidenschaft beherrscht wird: Sie will als Kapitän zur See fahren – und das in einer Zeit, in der eine Frau an Bord Unglück bedeutet. Anlass für Fragen:
BuchMarkt: Frau de Vries, eine Kapitänin als Heldin eines Romans, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielt, ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen?
Grete de Vries: Im Gegenteil. Die reale Heldin meines Romans hat so viel mehr riskiert, erlebt, durchlitten und bewältigt als ich meiner Romanheldin zumuten konnte. Frau Annaliese Sparbier, war nicht nur von der Idee nahezu besessen zur See zu fahren, sondern auch vielmehr von einem unbezwingbaren Gerechtigkeitssinn beseelt, der sie dazu brachte ihren Willen gegen alle Widerstände einzufordern. Wie Don Quichote ist sie ihr gesamtes Leben gegen die Windmühlen der Männer gerannt, die mit aller Kraft die männlichste aller männlichen Domänen gegen die Eroberung durch eine Frau verteidigt haben.
Sie hatten also ein reales Vorbild. Aber stand Ihnen das nicht auch ein wenig im Weg? Das wahre Leben ist bekanntlich nicht immer so aufregend wie ein Roman …
Das ist das schöne beim Schreiben, dass man alles Alltägliche, Nebensächliche einfach unter den Tisch fallen lassen kann und von Höhepunkt zu Höhepunkt eilen kann. Im Fall von Annaliese war es jedoch so, dass ich mich an ihren Lebensabschnitten, wie an einer Perlenkette entlang bewegen konnte. Zudem hat der geschichtliche Zeitstrahl natürlich einen gewissen Rahmen gegeben, da sich die Handlung größtenteils vor und während des zweiten Weltkriegs abspielte.
Sie sind also relativ nah an den wahren Geschehnissen geblieben. Wie war das denn bei der Recherche? Gibt es noch Zeitzeugen, die über Ihr Vorbild berichten konnten? Findet man noch Aufzeichnungen?
Über das reale Leben der Annaliese gibt es nur wenig schriftliche Quellen und so hat sich meine Recherche äußerst schwierig, aber auch erfüllend gestaltet. Es war zum Beispiel ein großes Glück, dass ich über eine Adresse aus einem Telefonbuch von 1952 einen Kontakt zu den lebenden Nachfahren herstellen konnte. Die Familie hat mir Tagebücher, Zeugnisse, Logbücher und viele Anekdoten zur Verfügung gestellt, die meine Romanfigur zum Leben erweckt haben. Geholfen hat mir in Hamburg zudem ein Zeitzeuge, den ich bei der Recherche kennengelernt habe und der als Kind von ihr unterrichtet wurde. Noch heute treffen sie die Schüler jener „Frau Teetz-Klasse“ einmal im Jahr und sprechen über alte Zeiten mit einer Lehrerin, die alle sehr geschätzt haben.
Nun spielt die Geschichte ja durchaus auch in politisch problematischen Zeiten. Es ist schwer vorstellbar, dass die reale Anneliese Teetz, geb. Sparbier eine Karriere als Seefahrerin machen konnte, ohne sich bei den Nazis lieb Kind zu machen. Wie sind Sie damit umgegangen?
Natürlich ist man sich beim Schreiben der sensiblen Problematik durchaus bewusst und hinterfragt die Intention seines Protagonisten. In Gesprächen mit Zeitzeugen, konnte ich aber einen Einblick in ihre Einstellung gewinnen, die privat wie politisch stets nur auf ein Ziel gerichtet war: an Bord zu gehen. Einen, wie sie selber sagte, unpolitischen Ort, weit entfernt von den Konflikten an Land. Die eigentliche Berührung mit der Partei hatte sie eher in ihrer Funktion als Lehrerin, von der ein Parteieintritt erwartetet wurde. Während meiner Recherche bin ich zudem im Zentralachiv Berlin-Lichtenrade auf den archivierten Schriftverkehr von Annaliese Sparbier und dem Reichsministerium gestoßen. Der fast hundert Seiten umfassende Schriftwechsel beleuchtet aufs dramatischste, wie sehr sie jahrelang für ihr Recht kämpfen musste. Eine erteilte Sondergenehmigung wurde zurückgenommen und die Arbeitsfront holte sie immer wieder unter fadenscheinigen Argumenten von Bord. Sie schlich sich daher häufig unter den Namen Anton oder Jonny an Bord, um den Schikanen zu entkommen.
Sie haben ja selbst einen Bezug zur Seefahrt. Aber kein Kapitänspatent, oder?
Nein, zum Glück bin ich nie zur See gefahren, auch wenn mein Vater wirklich diesen Berufswunsch für mich hatte. Er war Kapitän auf großer Fahrt und später Kanallotse auf dem Nordostsee-Kanal. Geschichten von Bord gehörten zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen, da ich meinen Vater an Bord begleiten durfte. Auch jetzt noch, nach all diesen Jahren, habe ich den Geruch der Dieselmotoren, ihr hämmerndes Geräusch und die Klänge von Schritten auf den Stahlleitern im Kopf. Beim Schreiben sind viele dieser Erinnerungen wieder zum Leben erwacht. Mein Bruder, der ebenfalls Lotse ist, konnte meine unzähligen Fragen beantworten, die beim Schreiben entstanden sind. Während der Arbeit an meinem Roman fiel mir auch ein Zeugnis meiner Großmutter in die Hände. Ausgestellt 1910, dem Geburtsjahr von Anneliese Sparbier. In wunderschöner Schreibschrift prangte dort der Name „Grete de Vries“ und inspirierte mich dazu den Kreis zu meiner eigenen Familiengeschichte zu schließen und ihn mit dieser besondere Geschichte zu verbinden.
Ist denn die Seefahrt auch heute noch eine reine Männerwelt? Oder gibt es inzwischen viel mehr Kapitäninnen?
Frauen steht der Zugang zum Beruf als Kapitän inzwischen zwar offen, jedoch ergreifen nur sehr wenige Frauen diesen entbehrungsreichen und harten Beruf. In Deutschland gibt es ca. 1.000 Kapitäne, davon sind neun weiblich. Sie fahren in erster Linie auf Kreuzfahrtschiffen, auf denen sie auch vermehrt in Offiziersrängen zu finden sind. Die Akzeptanz an Bord ist sicherlich sehr individuell von Mannschaft und Führungskraft abhängig.
Dann sagt uns Ihr Roman also auch etwas für die Gegenwart und Zukunft?
Frau Annaliese Teetz hat mit ihrem enormen Willen den Weg für Frauen bereitet, an Bord gehen zu können. Angetrieben nicht durch Feminismus, sondern ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Es war in ihren Augen einfach nicht einzusehen, dass Frauen nicht selber entscheiden durften, welchen Beruf sie ergreifen. Sie hat das Prinzip der absoluten Gleichberechtigung zu einer Zeit für sich eingefordert, da Frauen ihre Männer um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie einen Beruf ergreifen wollten. Sie hat ihr Leben nach diesem Motto, der absoluten Selbstbestimmung gelebt und ist daher immer noch ein starkes Vorbild.