Tagessätze – Unter diesem Titel veröffentlicht Alexander Bach seit über drei Jahren auf Patreon einen Roman, den er täglich fortschreibt – jeweils um exakt einen Satz. Anlass für Fragen zu diesem Projekt und der Idee dahinter:
BuchMarkt: Vor drei Jahren haben Sie begonnen, schrittweise einen Roman zu veröffentlichen, den Sie täglich um jeweils einen Satz fortschreiben. Wie darf man sich das genau vorstellen?
Alexander Bach: Die einzelnen Sätze des Romans erhalten die Leserinnen und Leser als digitales Abonnement täglich per E-Mail oder direkt über die Crowdfunding-Plattform Patreon. Man kann Patreon wahlweise am PC aufrufen oder in einer App, in beiden Fällen lässt sich inzwischen im gesamten Archiv blättern, so dass man den bisherigen Verlauf des Romans Satz für Satz nachlesen kann. Ergänzend dazu veröffentliche ich am Ende eines jeden Monats im Rahmen des Podcasts »Welle der Melancholie« eine Hörbuchfassung der jeweils aktuellen »Tagessätze«.
Können Sie uns etwas über die Handlung Ihres Romans sagen?
Es ist mehr eine Stimmung, als ein konkreter Handlungsverlauf, welche die »Tagessätze« auszeichnet. Wie in den Geschichten von Antonio Tabucchi oder Wilhelm Genazino lässt der Erzähler sich treiben. Zur gleichen Zeit aber wird er getrieben. Immer wieder flackern verblasste Erinnerungen auf, werfen Schlaglichter auf öde und abgeschiedene Orte während im Halbschatten eine diffuse Drohung verborgen scheint, die dem Erzähler auf Schritt und Tritt folgt.
»Tagessätze« ist eine Art inneres Road Movie, das gekennzeichnet ist durch ein Auskosten des Weges, aber auch durch eine anhaltende Spannung – die Frage, wohin der Weg am Ende führen mag. Während der Erzähler sich immer wieder in Alltagsbetrachtungen und Kunstreflexionen verliert, finden wir als Lesende ihn eben darin. Die gesamte Erzählung ist im Grunde ein behutsames Umkreisen, bei dem mit jeder weiteren Bewegung deutlicher wird, was eigentlich sich im Zentrum befindet.
Die »Tagessätze« sind mal verschachtelt, mal kurz und knapp, mitunter bestehen sie nur aus einem einzelnen Wort. Was brachte Sie auf die Idee einer derart kleinteiligen Erzählweise?
Ursprünglich ist die Idee ja aus einer Not heraus geboren. Das war noch ganz zu Beginn der Corona-Pandemie, als auf einmal Online-Formate aus dem Boden schossen, die jedoch in der Mehrzahl lediglich mit höchst bescheidenen Mitteln analoge Inhalte digitalisiert haben. Ich wollte damals ganz gezielt etwas für das digitale Medium entwickeln, das anders gar nicht denkbar wäre.
Jetzt hat es freilich schon immer Fortsetzungsgeschichten gegeben, bis hin zur extremen Verkürzung der Daily Strips, also Comics in Tageszeitungen wie beispielsweise den Adaptionen der James-Bond-Romane in den 50er und 60er Jahren. Aber ein derart entschleunigtes literarisches Erzählen ist sicher neu und anders auch kaum umsetzbar. Denn natürlich ist die Wirkung des Textes eine ganz andere, wenn man all die Sätze am Stück liest. Der eigentliche Reiz liegt in dem Spannungsbogen, der sich immer wieder aufs Neue von einem zum nächsten Tag bildet. Das kannte ich bereits von einer Geschichte, die ich einmal als literarischen Adventskalender in 24 Episoden veröffentlicht habe. Die »Tagessätze« allerdings treiben dieses Prinzip der langsamen Entfaltung noch einmal auf die Spitze.
Sie erzählen diese Geschichte inzwischen seit mehr als drei Jahren. Hat sich die Arbeit daran in dieser Zeit verändert?
Es sind ja wirklich unfassbar kleine Schritte in denen das Projekt sich vollzieht, das Schreiben ist im Grunde ein ganz allmähliches Vorantasten. Es gab zu Anfang ja kein Exposé, nur diesen ersten Satz »Das kann doch unmöglich schon das Ende sein!«
Das war auch für mich neu, der ich oft meine Texte vom Ende her entwickle, vom Schlusssatz zum Anfang hin. Hier aber ist es genau umgekehrt. Insofern war der Beginn auch erst einmal eine Standortbestimmung: Wer erzählt da eigentlich? Wo befindet der Erzähler sich? In welchem Zustand? Das alles war für mich genauso neu und aufregend, wie für die Leserinnen und Leser, und von dieser Entdeckerfreude ist für mich bis heute nichts verloren gegangen.
Irgendwann hatte ich dann eine grobe Vorstellung davon, wo ich mit diesem Erzähler hin möchte, worauf sein Weg zusteuert. Das hat sich im Detail noch ein, zwei Mal etwas verändert, aber im Wesentlichen habe ich inzwischen ein Ziel vor Augen, ich bin bloß selbst immer wieder überrascht, wie weit es dann letztlich doch noch entfernt ist.
Weil Sie nicht geradlinig darauf zusteuern?
Ja, genau. Denn die vergehende Zeit spielt natürlich beim Schreiben auch eine große Rolle. Anfangs waren es die wechselnden Jahreszeiten, die mich begleitet haben, während im Roman noch keine 24 Stunden vergangen waren. Die haben dann beispielsweise in Rückblenden Eingang gefunden. Inzwischen sind immer wieder auch neue Einflüsse und Anregungen hinzugekommen, wie zuletzt die Malerei des 19. Jahrhunderts oder die Architektur des Brutalismus. Für mich waren diese Dinge neu, während sie den Erzähler schon ein Leben lang begleiten, ein Leben, das von Satz zu Satz immer deutlicher zutage tritt.
Sie haben »Tagessätze« ganz bewusst als ein Work in Progress konzipiert, besteht da nicht die Gefahr, dass der Inhalt hinter der Form verloren geht?
Tatsächlich glaube ich, dass es sich bei den »Tagessätzen« noch gar nicht um eine feste Form handelt. Ich selbst spreche erst seit einiger Zeit von einem Roman, weil der Text sich eben inzwischen als ein solcher abzeichnet. Das war zu Anfang ja noch völlig offen, da wäre es auch denkbar gewesen, dass die Geschichte nach ein paar hundert Sätzen zu Ende erzählt gewesen wäre. Auch gab es Leser, die ganz zu Beginn den Zusammenhang zwischen den einzelnen »Tagessätzen« nicht gesehen haben. Die dachten dann, dass es sich um eine Folge von Aphorismen handelt. Und wirklich lassen sich einzelne Sätze oder Satzfolgen aus dem Zusammenhang lösen, die dann eine ganz eigene poetische Qualität haben. Bei denen man vielleicht auch ganz gerne einmal 24 Stunden lang verweilen möchte. Aber umgekehrt – das weiß ich inzwischen – funktioniert das eben auch. Ich habe im vorigen Sommer die ersten 250 Sätze auf die Bühne gebracht, als inszenierte Lesung mit Geräusch- und Musikuntermalung, das hat mich selber noch einmal ganz anders gepackt. Und was sich natürlich fortwährend verändert, ist die Relation. Passagen, die sich über ein, zwei Monate entwickeln und auf den ersten Blick vielleicht langatmig scheinen mögen, nehmen im weiteren Verlauf der Handlung vielleicht nur noch einen verhältnismäßig kleinen – aber eben wesentlichen – Teil ein.
Der Text ist eben in Bewegung – und das ist letztlich eine ganz besondere Lese-Erfahrung, genau das Einmalige, was ich damit schon zu Beginn der Pandemie erreichen wollte.