330 Jahre nach seiner Niederschrift, über 100 Jahre nach der ersten nennenswerten englischen und 25 Jahre nach der ersten ungekürzten, unzensierten Originalausgabe, erscheint am 24. August 2010 {Der Ganze Deutsche Pepys in neun Bänden, auf 4.416 Seiten, nebst einem Pepys-Companion. Das waren fünf Jahre Arbeit für sechs Übersetzer, einen Lektor und einen Hersteller. Allerdings: Das Werk gibt es nicht im Buchhandel, sondern nur über den Zweitausendeins-Versand. Das war Anlass für Fragen von Christian von Zittwitz an Gerd Haffmans: }
Den Wahnsinnstaten Deiner Werkausgaben, alle neu übersetzt oder neu ediert – ich erwähne nur 5 Bände Oscar Wilde, 10 Bände Gustave Flaubert, 10 Bände Arthur Schopenhauer, 9 Bände Sherlock Holmes, 5 Bände Father Brown, 9 Bände Tristram Shandy, 33 Bände Karl May, -zig Bände Arno Schmidt, dazu Rudyard Kipling, Ambrose Bierce, Joseph Conrad, Saki, Dorothy Parker, Katherine Mansfield, zuletzt 5 Bände Philip K. Dick – willst Du jetzt im fortgeschrittenen Rentenalter wohl noch eins draufsetzen?
Haffmans: An superlativische Kraftmeierei war weniger gedacht; vielleicht spielt eine gewisse altersbedingte Rücksichtslosigkeit hinein …
Warum Pepys, und vor allem der g a n z e Pepys? Warum jetzt? Was ist so besonderes daran, dass dem Leser in dieser schnelllebigen Häppchen-Zeit über 4.000 Seiten zugemutet werden? Reichen nicht die Auswahlbände?
Das waren, wenn ich richtig gezählt habe, fünf Fragen auf einmal. One after the other – as we English say.
Dann fangen wir mit der ersten an: Wie bist Du auf Pepys gekommen?
Zunächst durch die Form des Tagebuchs. Nicht nur ich war als pubertierendes Sensibelchen ein eifriger Tagebuchschreiber (und bedaure heute, die dann peinlich gewordenen Herzensergießungen vernichtet zu haben). Wir sind ein Heer von Tagebuchautoren – unveröffentlichten, anonymen, versteht sich. Am Anfang aller Literatur mag ja die Chronik gestanden haben, die kollektive Erinnerung, grandioses Beispiel ist immer noch die im Alten Testament festgehaltene Geschichte des Jüdischen Volkes. Dann folgt aber schon das Tagebuch als individualisierte Form der Chronik. Die eigene Geschichte, Sinnfindung, Rechtfertigung des Einzelnen steht im Mittelpunkt. Das Tagebuch als erste und ehrlichste Selbstauskunft. Wobei das mit der Ehrlichkeit nur partiell stimmt. Alle beschönigen, belügen andere und sich selbst – bewusst oder unbewusst. Mit einer Ausnahme, Samuel Pepys!
Ich teile Deine Einschätzung, noch mehr, seit ich die Eloge von Robert L. Stevenson auf ihn in Eurem Vorab-Presseexemplar gelesen habe. Doch noch mal: Wie bist Du auf Pepys gestoßen?
Schon sehr früh. Durch das kombinierte Interesse an der Form des TGB und meine – rein literarisch – entbrannte Liebe zu Arno Schmidt stieß ich 1965 auf die Sammlung bei Hanser: “Das Tagebuch und der moderne Autor”, in der Arno Schmidt Pepys den KING der Gattung nannte. Doch erst 1980 wurde zum ersten deutschen Pepys-Jahr. In Ost und West erschien je eine Auswahl: bei Reclam Stuttgart die von Helmut Winter; und bei Insel Leipzig die von Jutta & Anselm Schlösser. Und ich dachte – und viele denken noch heute so – das isses!
Isses aber nicht.
’türlich nicht! Dabei will ich die Verdienste beider Ausgaben gar nicht leugnen, sie haben als Korinthenpickereien immerhin einen ersten Hauch von Ahnung gebracht.
Mit der Reclam-Ausgabe habe auch ich damals Pepys kennengelernt.
Damit kennst Du ihn aber doch nicht. Wenn wir die Auswahl-Bände von Volker Kriegel und Roger Willemsen, 2004 bei Eichborn, noch hinzunehmen, so kommen alle drei zusammen auf keine 20 Prozent des ganzen Textes.
Das hat mir lange gereicht.
Bitte, wer mit Bändchen wie “Tafeln mit Goethe”, “Kegeln mit Kant” oder “Nicht-ganz-bei-Trost bei Bohlen“ sein Genüge findet, dem reicht vielleicht “Peepen mit Pepys”, das kann er nämlich auch. Nein, erst der ganze Pepys erzählt den Roman seines Lebens. Mit dieser Einsicht in mehr wuchs die Lust aufs Ganze. Was dieses Tagebuch so einzigartig macht, ist
erstens die einmalige, zuweilen geradezu grausame Ehrlichkeit, zweitens die Regelmäßigkeit und Dauer: kein Tag ohne Eintrag – und das zehn Jahre lang, und schließlich das hemmungslose Mitteilungsbedürfnis eines intelligenten, wachen und vergleichsweise vorurteilslosen Autors.
Das war der Werbeblock, das habe ich schöner bei Stevenson gelesen. Aber warum hat Pepys die Mühe seiner täglichen Tagebuchführung auf sich genommen?
Da sagst Du was, das ist die Schlüsselfrage. Denn es gab viele ehrgeizige aufstrebende Beamte, Bürger, Kaufleute in solcher Lage, die das nicht getan haben. Ich denke mir das so: Einer von Adel, Stand, großem Reichtum käme nie auf den Gedanken, ein Tagebuch zu führen, denn für ihn versteht sich das Leben und seine sichere Stellung darin von selbst. Es sind solche, die sich erst selbst verfertigen müssen, sich Rechenschaft über sich, ihre Umgebung, ihre Mitmenschen geben wollen. Für Pepys – er wird übrigens saemjuel pi:ps ausgesprochen – …
Ja, darüber hat mich Chris Howland schon vor Jahren aufgeklärt, nachdem er begriffen hatte, von wem ich ihm mit falscher Aussprache vorschwärmte …
… also für „Pieps“ war das auch ein Gedächtnistraining. Wir wissen, dass er als außerordentlich sicherer und überzeugender Redner aufgetreten ist, weil er alle Daten und Fakten im Kopf beisammen hatte. Er konnte über sein Wissen verfügen. Er wusste, wer, wann, was geschrieben, gesagt, verfügt hatte. Wer hat sich nicht schon bei Romanen mit beträchtlichem Personalbestand, die Lektüre mittels einer Namenliste erleichtert? Alles selbst Aufgeschriebene verankert sich fester im Gedächtnis. Pepys hat alles zweimal erlebt: zuerst im Leben und noch einmal durch Erinnerung und Fixierung im Tagebuch.
Was macht nun das Besondere dieser Tagebücher aus?
Einmal die historische Dimension. Wir werden Augen- und Ohrenzeugen einer aufregenden Epoche der englischen Geschichte. Pepys hat die Enthauptung König Charles I. mit angesehen, war erst Puritaner und Cromwellianer, dann glühender Monarchist; hat als Sekretär 1660 König Charles II. aus dem Exil von Holland zurück nach England geholt; hat als Schneidersohn seine Chance gepackt und Karriere im Flottenamt gemacht, hat das Pest-Jahr hautnah erlebt (sein Arzt ist gestorben), er hat sich bereichert, den großen Brand von London Tür an Tür mit den Flammen durchlitten und er musste sich für den Verlauf des holländisch-englischen Seekriegs vor dem Unterhaus verantworten .
Und was macht dieses Leben bis heute so einzigartig?
Pepys gibt einen einzigartigen Einblick und das Alltagsleben eines untypischen Durchschnittsmenschen. Der uns zehn Jahre lang Tag für Tag seines Lebens miterleben lässt: Jeden Morgen stehen wir mit ihm auf und jeden Abend gehen wir mit ihm zu Bett. Alles kommt vor: Arbeits-, Ehe-, Liebesleben, Ess- und Trinkgewohnheiten, Bücher und Buchhandlungen (SP war ein großer Leser, Bücher-, Bilder- und Stiche-Sammler), Theater (Shakespeares Romeo und Julia ist das schlechteste Stück, das er je gesehen habe), Musik, Wissenschaft, hohe Politik; auch die Verdauungsfragen kommen nicht zu kurz – nicht als Hauptsache, aber eben doch auch. Im Zentrum stehen seine Karriere im Flottenamt; der Umgang mit den Größen des Königreichs; seine Frau und seine Liebschaften. Und, ich kann das nicht oft genug wiederholen, er ist grausam, fast naiv ehrlich zu sich selbst wie sonst kein Tagebuchautor dieser Erde – ein Goethe oder Thomas Mann schielt bei jeder Zeile auf die Nachwelt.
Nicht auch Pepys?
Nein, er wusste, dass keiner das zu seinen Lebzeiten je lesen kann (weil er eine Kurzschrift verwendete), schon gar nicht seine Frau, seine Vorgesetzten, seine Kollegen und Freunde. Diese Rücksichtslosigkeit ist grandios und macht das Einzigartige dieses Tagebuchs aus.
Aber das eigentliche Wunder ist wohl, dass es jetzt erstmals erscheint.
Ein ganz alltägliches Wunder, weil sich niemand zuvor daran getraut hat. Klar lassen sich viele kleine Pepyse daraus destillieren, ganz im Sinne der Geschenkbuchindustrie: Schlemmen mit Pepys. Tanzen mit Pepys. Singen mit Pepys. Frauen verführen mit Pepys. Lachen mit Pepys. Pupsen mit Pepys. Geld vermehren mit Pepys. Kommt ja auch alles vor. Aber eben immer nur auch. Wie im richtigen Leben. Das ganze Tagebuch – das ist es.
Wir erfahren alles, echt ALLES über sein üppiges Liebesleben, wir erleben den Anfang der exakten Wissenschaften, er war mit Newton, Wren und Evelyn in der gleichen Akademie der Wissenschaften.
Wir gehen in diesem Kopf und mit seinem Köper spazieren, ins Amt, aufs Klo und zu Bett. Pepys lesen heißt, ohne Reue Voyeur spielen dürfen, mit dabei sein, 10 Jahre lang, Tag für Tag. Big Brother ist nichts dagegen. 4.432 Seiten lang die reine Wahrheit, nichts als die reine subjektiv erfahrene, täglich frisch mitgeteilte Wirklichkeit. Pepys hat sein Tagebuch nur beendet, weil er befürchtete, blind zu werden.
Mich begeistert, dass er so unheimlich menschlich war…
Ja. Er war ein Mensch wie Du und ich; er war kein Genie, und er wusste das auch. Aber sein Tagebuch zeigt den Durchschnittsmenschen als Genie, einfach durch die Tatsache, dass
er alles aufschreibt, was sonst kein Mensch für Aufschreibenswert gehalten hätte. Wer das heute mit dieser grundsätzlichen Ehrlichkeit gegen sich selbst durchhält, zehn Jahre lang jeden Tag seines Lebens mit allen Erlebnissen und Gedanken festzuhalten, würde wieder als Genie in die Historie eingehen.
Sowas macht viel Arbeit, mindestens eine Stunde täglich musste er in sein Tagebuch investieren …
…und er konnte es niemandem zeigen, er wäre gesellschaftlich erledigt gewesen, wenn das bekannt geworden wäre. Ob er auf die Nachwelt gezählt hat? Damit konnte er nur vage rechnen. Ruhm zu Lebzeiten war jedenfalls nicht zu gewinnen. Er muss ein unmittelbares Bedürfnis befriedig haben. Eine Art täglicher Beichte, Meditationsstunde, Äquilibristik für Entscheidungen.
Aber dieses Wunderwerk ist nicht im Buchhandel zu haben, sondern nur über Zweitausendeins.
Aus Kundensicht stimmt das nur begrenzt, denn Zweitausendeins hat jede Menge shop-in-shop-Läden in vielen Buchhandlungen.
Aber wenn andere Buchhändler die Ausgabe besorgen wollen?
Dann rate ich ihnen, die Ausgabe jetzt bis zum 23. August zum Subskriptionspreis zu kaufen. Jeder Buchhändler kann sich als Leser so viele Exemplare bestellen, wie er will. Ab dem 24. August gilt dann unwiderruflich der Ladenpreis von 169,90 Euro.
Warum hast Du Dich nach Deinen Erfahrungen an dieses Mammutwerk getraut?
Wohl weil ich wahnsinnig bin …
… das denken andere auch …
… und immer wieder wahnsinnige Mitmacher gefunden habe, die das abgenickt haben und jetzt weiter mittragen. An erster Stelle geht der Dank an Lutz Kroth, er hat vor fast 10 Jahren Ja gesagt. Jetzt ruht alles auf den Säulen Till Tolkemitt und Urs Jakob, die schon viele Jahre Geld und Arbeitskraft investiert haben. Ein großer Dank geht auch an die Merkheft-Redaktion unter Federführung von Fabian Reinecke, die beglückenderweise schon über 2.000 Subskribenten überzeigen könnten, von denen ein jeder vor Erscheinen 129,90 Euro eingezahlt und so die Produktion mit ermöglicht hat. Auch der Lektor und Supervisor Heiko Arntz sei bedankt sowie die Frau- und Mannschaft in der Alexandersraße 7 in Berlin. Zuletzt aber nicht als Letzer: Dank an Jonathan Wolstenholme, der die unübertrefflichen Umschlagbilder fertigte.
Wie lange willst Du Dir noch antun, selbständig zu sein in einem Alter, wo andere sich zur Ruhe setzen?
Wenn ich gesund bleibe, noch ein Weilchen. Ich hab ja nichts anderes gelernt. Und Nichtstun ist furchtbar anstrengend.
Pläne?
Viele. Einer ist die wohl kalkulierte Redaktion meines Tagebuches unter dem Titel “Vielseitig unbegabt”. Ich habe mich bemüht, von Pepys zu lernen. Schau Dir doch bitte die Schlussworte meiner Jungfernrede vor der Verlagsgründung im Sommer 1982 an, veröffentlicht im Oktober-Heft 1982 von BuchMarkt. Ich bin meinem Lebens- und Literatur-Programm treu geblieben.
Ich lese vor, was da steht, das war programmatisch und prophetisch: „Weiter über die Niederkunft neuer Medien … zu jammern… ist zwecklos. Wir sollten lieber solche Bücher machen, dass uns darin kein anderes Medium überflügeln kann. Statt in Selbstmitleid zu verschlammen, wäre es Zeit, in freundlicher Arroganz offensiv zu werden und auf den ganzen Rest zu pfeifen. Wenn es sein muss: Fröhlich und feste aus dem letzten Loch.“
Gerd Haffmans, Jahrgang 44, gelernter Buchhändler, kam 1968 als Werbe- und Vertriebsleiter zum Diogenes Verlag, den er 1982 als Cheflektor verließ, um im gleichen Jahr mit Urs Jakob den Haffmans Verlag zu gründen. Wie es weiterging, erzählt er so: „Dort fand bis Ende 2001 die höhere Heiterkeit in der Literatur eine Heimat. Dazu erschienen einige sorgsam edierte & gestaltete Klassikerausgaben an den Rändern des Mainsteams und mit „Der Rabe“ das Magazin für jede Art von Literatur. 2002 fand der Verlag bei Zweitausendeins ein neues Dach, das über 120 neue Werke beherbergte und in die Welt brachte und noch bringt. 2010 folgte die Auferstehung, Fortführung und Weitergabe an die nächste Generation durch den Haffmans & Tolkemitt Verlag, Berlin – Zürich“