Das Saarland ist ein kurioses Land. Marmelade heißt dort „Sießschmier“, wenn man dort „Es Frischgezappde“ verlangt, will man ein Bier. Wenn ein Saarländer sein Gegenüber fragt „HaschdeHuschde?“, erkundigt er sich nach dessen Gesundheit. Wer sich dort beklagt „Mir
is so raulisch“, dem geht esnicht gut. Wer verkündet „Ich hann die Freck“, der ist erkältet. In diesem etwas anderem Bundesland erstaunt es dann auch nicht weiter, dass das Ministerium für Arbeit, Familie, Prävention, Soziales und Sport des Landes Saarland sich selbst gerne als „MAFPSuS“ abkürzt.
Diesem MAFPSuS wiederum gefiel es kürzlich, beim BPjM, wie sich die „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ abkürzt, wegen eines Buchs vorstellig zu werden, dessen Titel ohne jeden Abkürzungsbedarf kurz und in schönem Hochdeutsch schlicht „Vögelfrei“ lautet. Dabei handelte es sich aber nicht, wie man hätte vermuten können, um das ornithologische Grundsatzprogramm des real existierenden saarländischen „Reisetaubenvereins ‚Grenzbrecher‘ St. Nikolaus“, sondern laut Verlagswerbung um ein fiktives „erotisches Roadmovie durch die Abgründe der Lust“.
Dem MAFPSuS waren es der Abgründe wohl zu viele. Mit dem Vorwurf „Nach hiesiger Auffassung enthält der Roman vielfach und über weite Passagen jugendgefährdende Inhalte“ wurde beantragt, das wie auch immer in Besitz des MAFPSuS gekommene Werk der Autorin Sophie Andresky, erschienen im Heyne Hardcore Verlag, auf den Index der jugendgefährdenden Bücher zu setzen.
Angetreten, dies zu verhindern, machte ich mich mit Unterstützung des Rechtsanwalts Dr. Wegner und der Ethnologin Dr. Hartan auf nach Bonn, wo die Prüfstelle ihren Sitz hat.
Vor Ort angekommen mussten wir noch ein paar Minuten vor dem Verhandlungsraum warten, bevor wir unsere Argumente dem Gremium von elf Beisitzern und einer Vorsitzenden präsentieren konnten. Zu unserer Überraschung drang wiederholt das Wort „Motherfucker“ aus dem Saal, gefolgt von der Erläuterung „Ey Alda, des isch voll meine Sprache, so sing ich eben.“ Wir schlossen daraus, dass dies wohl nicht die interne Vorberatung zu unserem Fall war, sondern die Vorgängerverhandlung. Und tatsächlich, nach kurzer Zeit verließ ein junger Mann mit Migrationshintergrund den Saal. Auf meine Nachfrage bei der Protokollantin, wer denn das gewesen sei, erfuhr ich: „Das ist der Rapper Farid Bang, sein Song ‚Der letzte Tag in Deinem Leben‘ soll indiziert werden.“
Das nahm ich als gutes Omen, denn im Anschluss an einen Rapper mit Versen wie
Gib doch zu dass du eine Schw*** -OP brauchst
Mutterf***er, kommst du in meine Gegend
Heißt es für dich der Letzte Tag deines Lebens
wirken wir Verlagsleute noch seriöser, als wir ohnehin sind.
So wurden wir dann auch von einem noch etwas mitgenommen, aber gefasst wirkenden Gremium begrüßt und erhielten Gelegenheit, unsere Argumente vorzubringen. Frau Dr. Hartan ging bei ihrem Plädoyer zugunsten von Vögelfrei alle acht Kapitel durch und erläuterte, dass dieses Buch für Jugendliche keine Gefährdung darstelle. Im Gegenteil: es könne sogar mit Gewinn für die Herausbildung einer eigenständigen Persönlichkeit gelesen werden. Die große Stärke des Buches liege darin, dass für den auch heranwachsenden Leser klar werde, wie sehr Sexualität und Zärtlichkeit miteinander verbunden sein können. Bereits im ersten Kapitel werde die traditionelle Werteauffassung in Bezug auf Ehe und Sexualität deutlich. Nicht zufällig spreche die Protagonistin im Buch stets von der „perfekten Ehe“, dem „perfekten Glück“, der „ganz großen Liebe“. Die wichtigste Botschaft, die dieses Buch an Jugendliche weitergebe, laute deshalb: Sexualität zwischen zwei Menschen beruht auf gegenseitiger absoluter Freiwilligkeit und beinhaltet auch die Möglichkeit, Nein sagen zu können! So erfahren Jugendliche durch die Lektüre eine Warnung vor einer ungesunden Überhöhung der Sexualität und schärfen damit ihre Urteilsfähigkeit.
An diese Bewertung des Romans „Vögelfrei“ knüpfte Dr. Wegner an, der einen Vergleich mit den ebenfalls nicht indizierten Büchern wie „Feuchtgebiete“ oder „American Psycho“ zog und darlegte, dass „Vögelfrei“ von seinem Gesamtkonzept her gerade nicht dahingehend ausgelegt sei, monothematisch sexuelle Vorgänge als alleine geltenden Orientierungsmaßstab vorzuführen. Ganz im Gegenteil, die Autorin fühle sich den Werten einer vertrauens-, humor- und liebevollen Beziehung verpflichtet. Jedem Leser sei dadurch offenkundig, dass das von der Autorin vermittelte ethische Wertesystem der Protagonistin nicht auf das entseelte, apersonale, gleichsam plumpe Ausleben des Sexualtriebs, sondern auf eine treue, vertrauensvolle Zweierbeziehung ausgerichtet sei.
Das Gremium schien beeindruckt, und als ein etwas älterer Beisitzer, entsandt vom Deutschen Kulturbund e.V. und offenbar so richtig neugierig geworden, vorschlug „Bringen Sie doch das nächste Mal die Autorin mit, hehehe“ und ein anderer vertrauensvoll fragte „Gibt es das Buch auch als E-Book“ ahnten wir, dass es gut für uns ausgehen würde. So war es nicht überraschend, dass uns das Gremium nach kurzer Beratung mitteilte, dass „Vögelfrei“ nicht auf den Index komme.
Beschwingt verließen wir die Behörde und machten noch ein Erinnerungsfoto. Dabei trafen wir eine Gruppe von wild tätowierten Männern in kurzen Hosen und Badelatschen. Offenbar die Protagonisten der Nachfolgeverhandlung, eine weitere Rapper-Gang. Nach ihrem Bandnamen zu fragen traute ich mich nicht, aber insgeheim wünschte ich ihnen viel Glück, sie werden es gebraucht haben.