Selten zuvor haben sich so viele Arbeitnehmende krank gemeldet wie im Jahr 2024. Die Personalausfälle betreffen auch den Buchhandel. Manuel Fink hat bei Haufe gerade das Buch Fehlzeiten aktiv managen veröffentlicht, in dem er Strategien für Arbeitgeber:innen aufführt, dem Problem zu begegnen. In unserem spannenden ausführlichen Interview geht er näher darauf ein.
BuchMarkt: Haben Sie eine Erklärung dafür, dass der Krankenstand in Deutschland so hoch wie nie zuvor ist?
Manuel Fink: Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten, wie wir es uns wünschen würden.
Die Fehlzeiten in Deutschland steigen bereits seit 2008 kontinuierlich an und nicht erst die letzten Jahre nach der COVID-19 Pandemie, wie viele glauben. In den letzten zwei Jahren gab es aber nochmals einen kräftigen Pick.
Die Auswirkungen sind vielfältig und ich gehe folgend auf die wichtigsten ein:
1. Anstieg der Atemwegserkrankungen
Seit der COVID-19 Pandemie gibt es ein anderes Bewusstsein hinsichtlich der Atemwegserkrankungen. Wo man früher beispielsweise noch mit einem Schnupfen zur Arbeit ging, wird man heute wegen möglichen Ansteckungsgefahren vielfach nach Hause geschickt. Ohne Homeoffice Möglichkeiten, führt dies zu höheren Abwesenheiten. Hier müssen wir abwarten, wie sich dieses Verhalten entwickelt. Gegenmaßnahmen wie Homeoffice oder flexible Arbeitszeiten sind nicht überall möglich.
2. Demografischer Aspekte
In einer zunehmend alternden Gesellschaft steigen die Ausfälle aufgrund von Verschleißerscheinungen. Jenseits der 55 dauert die Zeit bis zur Genesung fast doppelt so lange wie bei den unter 25-Jährigen. Hinzu kommt, dass die jüngeren Generationen ein anderes Verständnis von (ihrer) Gesundheit und Loyalität zu ihrem Arbeitgeber haben und sich früher krankschreiben lassen als ältere Mitarbeitende.
3. Arbeits- und Fachkräftemangel
Der Personalmangel im Gesundheitswesen ist ein sehr plakatives Beispiel, weil wir es am eigenen Leib spüren, wenn wir einen Arzttermin brauchen oder in Behandlung sind. Es herrscht ein notorischer Fachkräftemangel, der zu vielen Überstunden sowie psychischen und körperlichen Mehrbelastungen beim Pflege- und Arztpersonal führt. Aber auch in den Fertigungs- und Dienstleistungsbereichen führen Leistungsdruck, Mehrarbeit und unterschiedliche Krisen zu Stress, Überlastungen und krankheitsbedingten Ausfällen.
4. Anstieg von psychischen Erkrankungen
Laut dem Psychreport der DAK 2023 haben wir im Zehnjahresvergleich einen Anstieg der Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen um 48 %. Das Gesundheitswesen liegt auf dem traurigen ersten Platz. Ein besonders großer Anstieg bei Krankschreibungen aufgrund Depressionen oder Ängsten ist bei den jüngeren Generationen festzustellen.
5. Vollständige digitale Erfassung und Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen
Seit dem 01.01.2023 erfolgt bei den gesetzlich Krankenversicherten eine automatisierte, elektronische Übermittlung der Krankmeldung vom Arzt zur Krankenkasse. Das Papierformat, was nicht immer zur Krankenkasse getragen wurde, entfiel und führt so zu einer gesteigerten Erfassungsquote. Hierfür gibt es aber keine Vergleichszahlen.
6. Telefonische Krankschreibung
Während der Coronapandemie war aufgrund der überlasteten Arztpraxen sowie der hohen Ansteckungsgefahr, erstmals die telefonische Krankschreibung für Atemwegserkrankungen möglich. Am 07.12.2023 wurde dies reaktiviert und seitdem sind telefonische Krankschreibungen bei Krankheiten ohne schwere Symptome dauerhaft möglich. Hier streiten sich die Wirtschaft, Politik und die Ärztekammern darüber, ob dies wieder rückgängig gemacht werden soll. Die Wirtschaft sagt, es erleichtert das sich krankmelden. Die Ärzte sagen, es ist notwendig, um vor einem Kollaps der Arztpraxen vorzubeugen, sowie unnötige Ansteckungen im Wartezimmer zu vermeiden.
7. Die zuletzt positive wirtschaftliche Situation
Da der Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel so hoch ist, überdauert dieser selbst die aktuell schwache Konjunktur. In dieser Situation befinden wir uns bereits seit Jahren und es ist kritisch, dass dies gleich zweimal auf den Anstieg der Fehlzeiten einzahlt. Bei den demografischen Prognosen wird sich das auch nicht ändern. Bereits nach der Wirtschaftskrise 2008/2009 war das Thema Fachkräftemangel präsent und nahm in den 2010er-Jahren rasant Fahrt auf. Parallel steigt auch der Krankenstand kontinuierlich an. Das ist ein Teufelskreis: Mitarbeitende fühlen sich aufgrund des Fachkräftemangels unersetzbar und melden sich eher krank, da sie davon ausgehen, auf der Arbeit durch eine oder mehrere Krankmeldungen nicht mit Nachteilen rechnen zu müssen.
Der Krankenstand steht eindeutig mit der wirtschaftlichen Situation in Verbindung. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren, als Deutschland als „der kranke Mann Europas“ galt, ging der Krankenstand kontinuierlich zurück. Mit den Reformen der Agenda 2010 und dem Aufschwung nach der Finanzkrise 2008/2009 wurde die wirtschaftliche Situation besser und der Krankenstand stieg an. Auf der Website des Statistischen Bundesamtes können wir dazu folgende Erklärung lesen: „2007 gab es die niedrigsten Fehlzeiten seit 1991. Damals lag die durchschnittliche Zahl der Krankentage noch bei 12,7 Tagen, bis zum Jahr 2007 sank sie auf 8,1. Dies ist ein Rückgang um 36 %. Mögliche Ursachen können eine allgemein verbesserte Gesundheitslage oder der Rückgang gesundheitsbeeinträchtigender Arbeiten (zum Beispiel im produzierenden Gewerbe) sein. Aber auch die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes kann Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.“
Welcher Schaden ist damit insbesondere für kleinere Unternehmen verbunden?
Kleinere Unternehmen leider naturgemäß bereits stärker unter dem Fachkräftemangel, da sie für den Kandidatenmarkt weniger attraktiv erscheinen als Großunternehmen mit ihren Benefits und der
Markenausstrahlung. Das bedeutet, dass wenn dort jemand krankheitsbedingt fehlt, sich dies zumeist direkt negativ auf den Umsatz und Gewinn auswirkt.
Wie lässt sich aktiv gegensteuern?
Der Ausgangspunkt sollte immer eine Unternehmensanalyse sein. Mit den Erkenntnissen können dann zielgerichtete Maßnahmen entwickelt werden.
Hierbei sollten beispielsweise folgende Fragen gestellt werden:
• Wie sieht der Vergleich mit anderen Unternehmen in derselben Branche mit ähnlicher Größe hinsichtlich der Fehlzeiten aus?
• Gibt es bestimmte Abteilungen oder Teams, die überdurchschnittlich hohe Fehlzeiten aufweisen sowie ein dazugehöriges Ranking?
• Welche Arten von Fehlzeiten treten am häufigsten auf (z. B. Kurz-/Langzeiterkrankungen, Arbeitsunfälle, Muskel-Skelett-Erkrankungen usw.)?
• Gibt es spezifische Gründe für die Fehlzeiten im Unternehmen? (z. B. besondere Arbeitsbelastungen, demografische Struktur, Stressfaktoren usw.)?
• Gibt es Muster oder Trends in den individuellen Fehlzeiten? (z. B. häufige Fehltage vor/nach Feiertagen, vor/nach Urlaub usw.)
Im zweiten Schritt geht es um das Bewusstsein, dass Fehlzeiten deutlich stärker beeinflussbar sind, als die meisten Führungskräfte und Unternehmen denken. Der allseits bekannte Ausspruch „Krank ist Krank!“ ist ein unbegründeter Glaubenssatz. Denn drei von fünf Ursachen für Fehlzeiten sind sogar direkt durch aktive Führung beeinflussbar.
Hierzu habe ich die R.U.F.® Methode entwickelt.
R.U.F. ® steht für „Reduzierung ungeplanter Fehlzeiten“ und hat seinen Ursprung im „Projekt RuF“ aus dem Jahr 2012. Das Projekt, das zunächst für neun Monate geplant war, entwickelte sich über die Jahre zu einer äußerst erfolgreichen Methode im Fehlzeitenmanagement, die einen doppelten Gewinn verspricht. Weil die Ergebnisse zum einen auf den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens einzahlen, zum anderen auf die mitarbeiter-orientierten Aspekte, die sich beispielsweise in einer höheren Arbeitsmotivation, Steigerung der Gesundheit und der Unterstützung wirklich Erkrankter widerspiegeln.
Sie schreiben, dass Präsentismus jedoch auch keine Lösung ist. Warum?
Bei Präsentismus wissen wir, dass Arbeiten trotz Erkrankung für die Firmen hohe Kosten verursachen kann. Zum einen führen verschleppte Erkrankungen zu weiteren Be- und Überlastungen, womit die Gefahr von chronischen und langfristigen Erkrankungen steigt. Zum anderen führt Präsentismus zu einer niedrigeren Produktivität durch leistungsgeschwächte Mitarbeitende.
Besondere Vorsicht ist im Falle übertragbarer Viruserkrankungen geboten. Hier stehen Arbeitsplätze mit persönlichem Kontakt an vorderster Stelle. Im doppelten Sinne sehen wir das in der Pflege und Gesundheitsbranche, wenn kranke Mitarbeitende ganze Pflegestationen außer Gefecht setzen.
Deshalb bin ich auch kein Freund von Anwesenheitsprämien, wie sie immer wieder diskutiert werden.
Es gibt einen Weg, um Präsentismus kleinzuhalten: Die Unternehmensleitung sowie die Führungskräfte müssen stets nah an ihren Mitarbeitenden sein, um „Stopp“ sagen zu können und eine Kultur zu prägen, in der wirklich arbeitsunfähige Kolleg:innen nach Hause geschickt werden. Denn: Eine Person, die nicht fit und konzentriert ihre Arbeit verrichtet, ist hinsichtlich eines Arbeitsunfalles stärker gefährdet als gesunde Mitarbeitende. Wir reden hier auch vom Aspekt der Fürsorgepflicht.
Wie kann man betriebliches Gesundheitsmanagement bereits im Kleinen betreiben?
Große Unternehmen haben zumeist ein betriebliches Gesundheitsmanagement und können auch die Ressourcen dauerhaft zur Verfügung stellen. Kleine tun sich mit den Kosten und den Managementressourcen schwer.
Wenn man als kleines Unternehmen oder im generellen starten möchte, sollte man auch hier immer erst in die Bedarfsanalyse gehen und folgende Frage beantworten:
Welche gesundheitlichen Bedürfnisse haben die Mitarbeitenden in meinem spezifischen Unternehmen?
Im Anschluss könnten beispielsweise folgende Maßnahmen kurzfristig mit einem geringen personellen und finanziellen Aufwand umgesetzt werden:
- Gesundheitsfördernde Arbeitsbedingungen schaffen
Schaffung von ergonomisch gerechten Arbeitsplätzen wo immer möglich und individuell notwendig. Beispielsweise durch höhenverstellbare Schreibtische oder ergonomische Stühle. Auch der Einbau einer Klimaanlage kann sehr zur Stressreduktion und für ein angenehmeres Arbeiten beitragen. Kostenlos Wasser zur Verfügung stellen, gerade in den Sommermonaten wird dies oft unterschätzt. Ich persönlich finde auch den Obstkorb immer noch zeitgemäß, wenn er in ein Gesamtkonzept integriert wird. - Angebote für Bewegung und Stressbewältigung
Organisieren von bezuschussten Mitgliedschaften für Fitnessangebote wie Yoga, Rückentrainings oder anderweitige sportliche Aktivitäten. Als Vorbild voran gehen mit kurzen Spaziergängen und gesundem Essen in der Mittagspause. Auch Trainings für Zeitmanagement oder zur Stressbewältigung werden wertgeschätzt und sind auch für kleinere Unternehmen umsetzbar. - Gesundheitsbotschafter
Benennung eines/einer Gesundheitsbotschafter/in aus der Belegschaft, der/die für BGM-Themen zuständig sind und Ideen einbringen. Dies schafft einen direkten Ansprechpartner für Gesundheitsfragen und entlastet den/die Unternehmer:in.
Kooperation mit externen Partnern - Zusammenarbeit mit Krankenkassen und/oder Gesundheitsdienstleistern, die maßgeschneiderte Programme und Ressourcen bereitstellen. Hier kann es win-win Situationen und Leistungen geben, welche oftmals für das Unternehmen oder die Mitarbeitenden kostenlos oder zu reduzierten Konditionen erbracht werden.
Was halten Sie von der Idee des Karenztages?
Hierzu habe ich eine klare Haltung: Ich lehne die Idee ab.
Zum einen werden bei einer generellen Regelung stets die bestraft, welche wirklich erkrankt sind und Hilfe benötigen. Krankmachende die trotz Arbeitsfähigkeit zuhause bleiben, werden dies zum Anlass nehmen, dass wenn sie schon den ersten Tag nicht bezahlt bekommen, dann die ganze Woche oder darüber hinaus zuhause bleiben. Zudem gilt es zu bedenken, dass sich gerade Mitarbeitende im Niedriglohnsektor, einen Tag Entgeltausfall nicht leisten können.
Zudem Stichwort Präsentismus: Diejenigen welche sich den Lohnausfall nicht leisten können, werden trotz Arbeitsunfähigkeit zur Arbeit erscheinen. Sie werden versuchen dies „geheim zu halten“ und hoffen, dass es nicht auffällt und sie nicht nach Haue geschickt werden. Dafür riskieren sie Verschleppungen und gefährden andere Mitarbeitende durch Ansteckungsgefahren.
Die Fragen stellte Hanna Schönberg