Der vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport vergebene Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur geht dieses Jahr an die französische Autorin Marie NDiaye.
In der Begründung der Jury, die aus Anna Kim, Anette Knoch, Norbert Mayer, Teresa Präauer und Robert Renk bestand, heißt es: „Marie NDiaye kann zurecht als Star der französischen Gegenwartsliteratur bezeichnet werden. Ihre Wirkung reicht jedoch weit darüber hinaus. Sie hat Europa wörtlich genommen erfahren, lebte mit ihrer Familie auch viele Jahre in Spanien, Italien, den Niederlanden und Deutschland. Es dürften prägende Aufenthalte gewesen sein, wie man ihren Texten entnehmen kann. Bereits als Teenager veröffentlichte sie 1985 ihren ersten Roman. Seither hat sie eine Fülle an Werken geschaffen, vor allem Prosa, aber auch Dramen, Drehbücher und Essays, die immer wieder bestätigen: Sie gehört längst schon zu den Besten unserer Zeit. Diese Autorin ist stilistisch brillant, eine Meisterin der Figurenzeichnung. Sie schlägt ihr Publikum mit raffinierten Erzählweisen in Bann, lässt immer wieder Abgründe erahnen. Manche ihrer Texte lesen sich wie Horror-Thriller. Entfremdung, familiäre Beklemmungen und entsprechende Ausbruchversuche sind wiederkehrende Motive bei ihr. Aus diversen Blickwinkeln sieht man den Kontinent und beginnt tiefgehende Verschiebungen zu ahnen. In den wunderbaren Büchern dieser Tochter einer Französin und eines Senegalesen spielt Afrika ebenfalls eine kaum zu unterschätzende Rolle. Auch aus dieser Perspektive erschließt sich ihren Leserinnen und Lesern Europa und stellt es in einen größeren Zusammenhang.“
„Marie NDiayes Bücher sind komplex komponierte, in glasklarer Sprache geführte Gegenwartsanalysen, die aktuelle Fragen zu Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe und sozialer Klasse aufgreifen und bis in die feinsten Verästelungen des Zwischenmenschlichen hinein verfolgen. Wer denkt, es sei alles in bester Ordnung in unserer liberalen Wohlstandsgesellschaft, der irrt. Man muss nur einen Roman von Marie NDiaye aufschlagen und weiß, dass vieles im Argen liegt. Gerade in Zeiten massiver gesellschaftlicher Umbrüche wirkt sie daher für den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur wie prädestiniert“, so Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer. „Marie NDiaye schafft Figuren, in denen gesellschaftlich Verdrängtes und Unerledigtes wiederkehrt, und entwickelt Szenen und Familienaufstellungen, die sich rational nicht restlos erklären lassen. Nicht mit Psychologie, nicht mit Psychoanalyse, nicht mit Soziologie. Die Befremdung, das Unheimliche wird nicht aufgelöst. Der Leser bleibt irritiert zurück, blättert nochmals vor zum Anfang, liest einzelne Absätze noch einmal nach – um zu erkennen, dass Marie NDiaye die unübertroffene Meisterin der literarischen Verstörung ist.“
Staatssekretärin Andrea Mayer hob in diesem Zusammenhang auch die besondere Bedeutung der Übersetzer*innen hervor, ohne die es keine europäische Literatur, ohne die es keine Weltliteratur geben würde: „Denn dass wir Marie NDiaye auf Deutsch lesen können, verdanken wir ihrer Übersetzerin Claudia Kalscheuer.“
Der mit 25.000 Euro dotierte Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wird seit 1965 für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines europäischen Autors verliehen, das international besondere Beachtung gefunden hat, was durch Übersetzungen dokumentiert sein muss. Das Werk muss auch in deutschsprachiger Übersetzung vorliegen. Die Preisverleihung erfolgt durch Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer traditionell im Rahmen eines Festaktes während der Salzburger Festspiele. Zuletzt ging der Preis an Mircea Cărtărescu, Andrzej Stasiuk, Karl Ove Knausgård, Zadie Smith, Michel Houellebecq, Drago Jančar, László Krasznahorkai und Ali Smith.