Jutta Pilgram und Barbara Yelin über das Symposium „Bilder für das Unsichtbare – Comic-Künstler:innen im Dialog mit den Wissenschaften" „Der Leser:innenmarkt in Deutschland ist noch längst nicht ausgeschöpft“

Premiere im Literaturhaus München: Am 11. Februar findet dort von 14 bis 21 Uhr das Symposium „Bilder für das Unsichtbare – Comic-Künstler:innen im Dialog mit den Wissenschaften“ statt. Wir haben mit den Kuratorinnen Barbara Yelin und Jutta Pilgram über das Konzept gesprochen, bei dem es um das Zusammenspiel und die Wechselwirkungen von Comics und den Wissenschaften geht.

Sie kuratieren gemeinsam das Programm der Tagung „Bilder für das Unsichtbare – Comic- Künstler:innen im Dialog mit den Wissenschaften“ im Literaturhaus München. Welche Idee liegt der Veranstaltung zugrunde?

Jutta Pilgram

Jutta Pilgram: Es gibt immer noch diese Vorstellung, dass Comics lustig sein müssen und dass sie eigentlich keine ernsthaften Themen behandeln. Das stimmt schon lange nicht mehr. Wissenschaftsbasierte Comics wie z. B. die der schwedischen Comic-Zeichnerin Liv Strömquist oder die graphische Adaption von Yuval Noah Hararis Eine kurze Geschichte der Menschheit sind Bestseller und zeigen, wie gut sich anspruchsvolle Themen in Comics vermitteln lassen.

Barbara Yelin © Martin Friedrich

Barbara Yelin: Der Anfang der Idee zum Symposium war eigentlich eine meiner eigenen, besonders spannenden Erfahrungen als Comic-Zeichnerin: die Begegnung mit den Wissenschaften, wenn ich recherchebasiert arbeite. Meine Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen ist immer sehr befruchtend und erweiternd. Ich lerne viel. Dadurch, dass ich zeichnerisch erzähle, stelle ich auch spezifische Fragen nach Hintergründen, Details, Farben, konkreten Inhalten. Und meine Gesprächspartner:innen aus der Wissenschaft bestätigen, dass der Austausch über diese Fragen auch für sie in ihrer Arbeit etwas Erweiterndes hat, dass neue Fragen dadurch oft überhaupt erst sichtbar werden. Dieser besonderen Form des Dialogs wollen wir ein öffentliches Forum geben.

Sie beziehen sich auf Ihre Arbeit für die Graphic-Novel-Anthologie Aber ich lebe – Vier Kinder überleben den Holocaust und für Jan Bazuin – Tagebuch eines Zwangsarbeiters,  für die Sie mit Historiker:innen zusammengearbeitet haben? Können Sie ein konkretes Beispiel geben, was Sie dabei gelernt haben und welche Fragen an die Wissenschaft dabei sichtbar wurden?

Barbara Yelin: Für die Anthologie Aber ich lebe habe ich die Erinnerungen von Emmie Arbel, die als Kind zwei NS-Konzentrationslager überlebte, im Dialog mit ihr aufgezeichnet. Ihre Erinnerungen und auch die Leerstellen ihrer Erinnerung habe ich intensiv recherchiert – mit Unterstützung von Historiker:innen, die mich bei der Recherche und im Schaffensprozess unterstützt haben. Es ging bei diesem Projekt auch darum, die Perspektive der Verfolgten sichtbar zu machen, für die es oft keine Bilder gibt. Die Bedingungen im KZ Ravensbrück konnte ich auch auf Basis von Zeichnungen und Berichten anderer Gefangener ins Bild setzen. Und mit den Dokumenten der Arolsen Archives konnte ich den Weg Emmie Arbels nach der Befreiung des KZs Bergen-Belsen nachzeichnen, an den sie sich selbst nicht erinnert. Hierfür war der Dialog mit Geschichtswissenschaftler:innen, Gedenkstätten und Archiven elementar.

Für die Illustrationen für Jan Bazuin – Tagebuch eines Zwangsarbeiters war die Zusammenarbeit mit dem Historiker Paul-Moritz Rabe (NS-Dokumentationszentrum München) wichtig. Auf Basis der historischen Dokumente, der wenigen existierenden Fotografien und der Berichte der Zeitzeug:innen habe ich Bilder entworfen zu Jan Bazuins Deportation in das Arbeitslager Neuaubing in den letzten Monaten des 2. Weltkriegs. Zusammen konnten wir Details erörtern, von den Lichtverhältnissen in den Zwangsarbeiterlagern bis hin zu den Zerstörungen durch die deutschen Luftangriffe in Bazuins Rotterdamer Heimatstraße.

Neben einem Panel zum Thema „Comics und Geschichtswissenschaft“ wird es zwei weitere geben, unter der Überschrift „Comics und Naturwissenschaft“ und „Comics und Psychologie“. Wie kam es zu der Themensetzung und was erwartet Zuschauer:innen in den jeweils 90 Minuten?

Jutta Pilgram: Wir haben drei Bereiche gesucht, in denen es in letzter Zeit interessante Comic-Neuerscheinungen gab und die in unterschiedlicher Weise mit Wissenschaften korrespondieren. Es hätten auch noch mehr Gebiete sein können — zum Beispiel Medizin, Wirtschaft, Gender Studies. Aber wir mussten uns beschränken.

Barbara Yelin: Diese von uns ausgewählten Themenbereiche betreffen unser aller Alltag. Gleichzeitig sind sie sehr komplex. Im Panel „Comics und Naturwissenschaft“ werden wir Wissensvermittlung durch Comics beleuchten, aber auch den künstlerischen Umgang mit Zukunftsforschung in Science-Fiction-Werken. Beim Themenbereich „Comics und Psychologie“ geht es um Aspekte wie Tod, Trauer und Krisen. Wie können solche Themen zeichnerisch bearbeitet und gezeigt werden? Es sind ja oft Geschichten, für die Worte nicht ausreichen.

„Comics und Geschichtswissenschaft“ ist auch mein ganz persönliches Thema. Ich finde es ungemein interessant, wie viele neue Graphic Novels sich auf Spurensuche machen und Bilder und Narration finden für die Leerstellen der Erinnerung. Wir haben sechs Zeichner:innen aus dem deutschsprachigen Raum eingeladen, die aktuelle Werke zeigen. Es wird auch Einblicke in Comics geben, die gerade erst entstehen, so zum Beispiel von Birgit Weyhe oder von Lukas Jüliger.

… und dazu kommt noch der Programmpunkt „Neue Impulse: Comics in der digitalen Anwendung“: Worum wird es gehen und warum wurde hierfür eine andere Form gewählt?

Barbara Yelin: Hier zeigen wir narrativ-didaktische Beispiele, die explizit mit neuen Bild-Medien umgehen, also aus dem Buch heraus ins Digitale. Paul-Moritz Rabe wird ein sogenanntes Serious Game vorstellen, das auf den Tagebuchnotizen des Zwangsarbeiters Jan Bazuin basiert und diese mittels Zeichnungen erzählt.

Jutta Pilgram: Und ich bin besonders gespannt auf den Vortrag von Johannes Kretzschmar, den ich bisher nur als Comic-Zeichner kenne. Aber er ist vor allem Informatiker und forscht im Bereich Photonik an der Uni Jena. Dort setzt er Augmented-Reality-Comics in Experimentalaufbauten ein, die er selbst gezeichnet hat.

Wie beurteilen Sie den Stellenwert von Comics im stationären Buchhandel? Warum sollten Buchhändler:innen sich in die Veranstaltung, die gestreamt wird, einschalten?

Jutta Pilgram: Wir glauben, dass Comics ein enormes Potential haben und der Leser:innenmarkt in Deutschland noch längst nicht ausgeschöpft ist. Wer einmal die Comic-Abteilung einer Buchhandlung in Frankreich oder in den USA besucht hat, bekommt eine Vorstellung davon, wie wichtig Comics werden können. Da findet man oft mehr (übersetzte) Graphic Novels deutscher Autor:innen als in der durchschnittlichen Buchhandlung hierzulande. Aber auch in Deutschland gibt es zunehmend tolle Buchhandlungen, die Graphic Novels sichtbar oder als eigenes Segment führen. Wir würden uns riesig freuen, wenn viele Buchhändler:innen die Veranstaltung oder den Livestream besuchen würden und die große thematische und stilistische Bandbreite sähen, die Comics abdecken.

Wir hören immer wieder, dass die Arbeit an einer Graphic Novel von Verlagsseite allein eigentlich gar nicht bezahlbar ist. Dennoch scheint das Genre immer wichtiger zu werden, nicht zuletzt, weil die Aufnahme von Informationen durch Bilder an Bedeutung gewinnt. Nur sollten es eben durchdachte Bilder sein. Wie schätzen Sie die Zukunft der Graphic Novel ein?

Barbara Yelin: Wir sind überzeugt, dass Graphic Novels stetig weiter an Relevanz gewinnen, eben weil sich auch anspruchsvolle Themen – dokumentarisch wie fiktional – vielschichtig, bildhaft und künstlerisch vermitteln lassen. Die Möglichkeiten sind so groß und noch längst nicht alle begangen. Ihre Zukunft sehen wir aus dieser Perspektive betrachtet auf jeden Fall rosig. Das Dilemma der Finanzierbarkeit ist allerdings sehr relevant, auch deswegen ist die Diskussion um Möglichkeiten der Förderung, für Künstler:innen und Verlage, so wichtig. Wir denken, dass Grafische Literatur bei der öffentlichen Förderung genauso ernstgenommen werden muss wie andere Kunstsparten.

Die Teilnahme an dem hochkarätig besetzten Format „Bilder für das Unsichtbare – Comic- Künstler:innen im Dialog mit den Wissenschaften“ ist kostenlos. Wie ließ sich das organisieren?

Jutta Pilgram: Wir haben im letzten Sommer eine groß angelegte Förderung des bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst bekommen. Mit den Mitteln haben wir das Netzwerk „Comic in Bayern“ gegründet, eine Comic-Lesungsreihe ins Leben gerufen, viele weitere Pläne entwickelt und nun dieses Symposium organisiert. Wir sind sehr dankbar, dass im Kunstministerium ganz stark die Überzeugung herrscht, dass der Comic als Literaturform eine große Zukunft hat.

Die Fragen stellte Susanna Wengeler

Hier geht es zum Programm.

Hier geht es zum Livestream am 11. Februar ab 14 Uhr.

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