Manfred Flügge wurde 1946 in Kolding/Dänemark geboren. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er im Ruhrgebiet. Er studierte Romanistik und Geschichte (in Münster i. W. und in Lille), war Gymnasiallehrer und Universitätsdozent und lebt seit 1988 als freier Autor, Übersetzer und Kritiker in Berlin und Paris.
Zuletzt erschienen im Aufbau Verlag: Die vier Leben der Marta Feuchtwanger (2008), Stéphane Hessel – ein glücklicher Rebell, Das Jahrhundert der Manns (2015). Sein neuestes Buch Stadt Ohne Seele. Wien 1938 erscheint am 16. Februar. Ein Zeitroman, der zum vielfältigen Schicksalspanorama wird… Anlass für Fragen an den Autor:
BuchMarkt: Herr Flügge, worum geht es in Stadt Ohne Seele, und wie entstand die Idee zu diesem Buch?
Manfred Flügge: Das Leben des Geistes, dargestellt anhand einzelner Künstler-Schicksale in bestimmten historischen Augenblicken, das war das treibende Motiv in meinen bisherigen Biographien und biographischen Essays. Hinter jedem einzelnen Beispiel stand dabei die Frage nach der Bedeutung des Imaginären im Leben der Schriftsteller und Künstler wie im Leben der Gesellschaft.
In meinem vorigen Buch (Das Jahrhundert der Manns, Aufbau 2015) habe ich mich schon mit dem Verhältnis von Mythos und Geschichte befasst (als mythisches Erzählen bei Thomas Mann, als lebendiger Mythos bei dem ‚Clan‘ der Manns). Am Anfang stand die Frage, warum sich Thomas Mann, aber auch Sigmund Freud um 1930 mit dem Mythos befasst haben (als Lüge und Propaganda).
Wien im März 1938, die Tragödie des „Anschlusses“, bietet eine Verdichtung all dieser Fragen und somit ein Denkbeispiel von bleibender Bedeutung. Fragen von Macht und Wahn, von Identitäten und Illusionen, von Kritik und Verblendung, von Massenhysterie und versuchter Aufklärung spielten dabei eine zentrale Rolle: an einem markanten Ort und innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne. Man kann geradezu von einem Krieg der Mythen sprechen.
Wieso kann Ihr Buch als Schicksalspanorama verstanden werden?
Mein Buch bietet die Autopsie eines historischen Augenblicks, mit wechselnden Perspektiven und Mitteln, aber als Erzählung aus einem Guss. Der „Anschluss“ war ein Schlüsselmoment der europäischen Geschichte. Im Wiener März des Jahres 1938 zeigten sich deutlich wie nie zuvor das Wesen des Nationalismus und die Natur des NS-Regimes, das sich in kurzer Zeit noch einmal extrem radikalisierte.
In einem Wechsel von historischer Darstellung, Essay und beispielhaften Lebenserzählungen wird ein anschauliches Bild einer Epoche gegeben.
Geschildert werden die Vorgeschichte des „Anschlusses“, die Tage vom 11. bis zum 15. März 1938, die unmittelbaren Folgen dieses dramatischen Umbruchs und Zusammenbruchs. So entsteht ein Zeitroman, der ein vielfältiges Schicksalspanorama in Szene setzt.
Erörtert wird auch ideengeschichtliche Dimension. Das intellektuelle Kernthema der Wiener Jahre vor 1938 war ein rationaler Diskurs über die Seele. Das galt in der Literatur (Werfel, Musil) wie bei Sigmund Freud (sein letztes Werk über „den Mann Moses“). Auch die Figur Hitler wird als Mythen-Strategie beleuchtet, auf der Basis neuerer Erkenntnisse über seinen Weg in die Politik und sein Verhältnis zu Wien.
Hinzu kam die gesellschaftliche und politische Vorherrschaft der katholischen Kirche, aber auch der Status der Juden in Wien, einer der größten Gemeinden Europas. Die jüdische Erfahrung dieses tragischen Moments ist kein Nebenaspekt, sondern ein zentrales Thema. Beispielhaft ausgewählte Schicksale erlauben, die Urerfahrung des Exils nachzuzeichnen. Auch der neue Alltag wird gezeigt, die deutsche Verwandlung Wiens, vom Verkehrswesen bis zum Sport.
Welche Leserschaft wollen Sie ansprechen?
Ich schreibe für alle historisch interessierten Menschen, und das durchaus mit literarischem Anspruch. Auch für Fachleute und Kenner biete ich Neues, im Detail wie in den großen Zusammenhängen. Die erzählende Grundstruktur soll Menschen ohne Vorkenntnisse den Zugang ermöglichen.
Wo könnte der Buchhändler Ihr Buch angemessen platzieren?
Meine Bücher sind immer in Grenzgebieten angesiedelt, irgendwo zwischen den Abteilungen Biographien, Geschichte, Essay und nicht allzu weit entfernt von den historischen Romanen. Also am besten ein eigener Tisch … ;)
Ihre letzte Leseerfahrung?
Im Jahr 2017 habe ich Litauen kennengelernt, dank der Übersetzung meines Buches Das Jahrhundert der Manns. Dabei habe ich einen großen Autor entdeckt: Tomas Venclova. Nicht nur sein Buch über Vilnius hat mich begeistert, sondern vor allem Der magnetische Norden, ein Jahrhundertbuch (Suhrkamp 2017). Anhand vieler Biographien und eigener Erfahrungen (als Opponent und Dissident, schließlich als Exilant in den USA) schildert er die ganze Absurdität des Lebens in der sowjetischen Sphäre, aber auch die erstaunliche Gegenwelt der Poesie, ob in Russland, Polen oder Litauen selbst, nicht anklagend, sondern anschaulich und vermittelnd, jenseits von Nationalismus und Ideologien. Dieser Autor verdient den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Welche Frage, die wir nicht gestellt haben, hätten Sie dennoch gerne beantwortet?
Ich habe gleich zwei. Frage 1: Sie sind in einem dänischen Flüchtlingslager geboren worden?
Frage 2: Was heißt: lebt in Berlin und Paris?
Hier können Sie dies nun tun:
Zu Frage 1: Ja, ja, ganz unfreiwillig… Alles über diesen unordentlichen Lebensanfang und die Folgen erfährt man aus einem Film, der am 31.1.2018 um 21.15 h auf MDR ausgestrahlt wird (und später in der Mediathek):
„Vatersuche. Mutter und der Maschinist. Ein Film von Margarete Kreuzer“
Zu Frage 2: Weiß ich auch nicht. Das hat sich mal jemand ausgedacht, ohne mich zu fragen. Seit 40 Jahren lebe ich in Berlin, bin allerdings mehrmals im Jahr unterwegs zwischen Paris und Nizza, aber gilt diese (anstrengende) Mischung aus Recherchen, Vorträgen und Privatbesuchen als „Leben“?