An dieser Stelle schreibt Literaturagent und Autor Thomas Montasser regelmäßig über Absonderlichkeiten des Literaturbetriebs. Heute staunt er über die Programmplanung in Publikumsverlagen, über neue Imprints und Genreschubladen:
Jährlich mehrmals nehmen wir staunend Meldungen zur Kenntnis, wonach neue Verlage bzw. Verlagsimprints aus der Taufe gehoben werden, die Lücken füllen sollen, und zwar dort, wo man sie in der Regel gar nicht vermutet hätte. Ein großer Kinder- und Jugendbuchverlag gründet ein eigenes Romance-Imprint. Ein großer Belletristikverlag stellt sein neues Label für Autor:innen vor, die „gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungen aufgreifen und mit einer großen emotionalen Kraft über relevante, inspirierende und identifikatorische Themen schreiben“. Ein anderer macht ein Programmsegment auf, um darin Bücher zu machen, „die wir unseren besten Freundinnen und Freunden weiterempfehlen möchten“ …
Offenbar hatte ich die bisherigen Verlagsprogramme alle falsch verstanden. Mir war es bisher schon so vorgekommen, als hätten die betreffenden Verlage jede Menge Romance veröffentlicht, sich mit gesellschaftlich relevanten und inspirierenden Themen auseinandergesetzt und auch etliche Bücher gemacht, von denen ich erwartet hätte, dass sie sie im Zweifel auch den besten Freundinnen und Freunden weiterempfehlen würden. Aber so kann man sich täuschen.
In Wahrheit liegt die Crux natürlich nicht in den Inhalten, sondern in der Verpackung: Einfach irgendwo im Programm irgendein Buch zu veranstalten, und sei es noch so gut und/oder verkäuflich, das ist ja keine Verlegerei! Heute muss man schon sehr sorgfältig konfektionieren, was man so aufs Publikum loslässt. Die Genres werden immer kleinteiliger, die Unterschiede so verzwickt, dass man oft nur noch durch entsprechend zugeschnittene Programmprofile für eine halbwegs klare verlegerische Linie sorgen kann. Außerdem lässt sich so der erwartete Ab- und Umsatz viel besser kalkulieren: Bitte sechsmal Frauenunterhaltung, dreimal Thriller, viermal New Adult, zweimal Literatur (davon mindestens einmal mit Identitätsthema und auf jeden Fall woke) und einmal Alter-Weißer-Mann-Gelaber (als Weglasstitel). Wie soll man das bitte in einem einzigen Verlagsprogramm als logisch vermitteln? „Der Markt“ würde es den Verlagen zurecht um die Ohren hauen. Oder?
Naja, er würde es ihm vielleicht um die Ohren hauen. Aber: zurecht? Ich denke nicht. Es steckt nämlich in der Programmplanung der Publikumsverlage ein ganzes Arsenal an Dilemmata. Fangen wir mal beim vermeintlich kleinsten Problem an, den sogenannten Programmplätzen. Sehr gerne erinnere ich mich an ein Gespräch, das ich kurz nach der Jahrtausendwende mit dem wunderbaren Johannes Thiele führte, damals Chef des Marion von Schröder-Verlags.
„Haben Sie denn im Herbst noch ein Plätzchen frei für einen besonderen Roman?“, fragt der hoffnungsvolle Jungagent.
„Das kommt auf den Roman an“, antwortet souverän der Verleger.
„Naja, ich meine nur, weil Sie ja wahrscheinlich schon alles verplant haben.“
„Ob ich ein Buch mehr mache oder eines weniger, hängt doch nicht davon ab, was ich bisher schon reingestellt habe. Wenn es was Tolles ist, mach ich es gerne! Wenn nicht, mache ich lieber eines weniger.“
Hach, das waren noch Zeiten! Heute sind die Programme meist so schematisiert, dass man selbst mit dem besten Buch der Welt keinen Fuß in die Tür kriegt, wenn alle Slots besetzt sind (und schon gar keinen Platz „mit Marketing-Etat“). Umgekehrt wird offensichtlich manches auf Programmplätze gehievt, was man sich besser gespart hätte – Hauptsache „das Programm steht“.
Mit Vito von Eichborn starb kürzlich ein großer Verlagsmensch, dessen Programm es war, kein Programm zu haben. Der hat einfach gemacht, was er gut fand. Ich mag nicht in allem einer Meinung gewesen sein, aber er hat sein Programm ja nicht für mich gemacht. Und das hat er gut gemacht. Mitunter waren die Eichborn-Programme ausufernd und bizarr. Immer aber waren sie überraschend und inspirierend. Und damit waren sie rückblickend auf faszinierende Weise vorbildlich.
Während der Pandemie habe ich einmal ein Neujahrskonzert im Fernsehen gesehen, ganz old school linear, wie man so schön sagt. Christian Thielemann hat Operettenmelodien und Schlager der 1920er- und 1930er-Jahre dirigiert. Ich war hingerissen: ein Geistesblitz am anderen, eine brillante musikalische Idee jagte die nächste. Was für ein Feuerwerk an Überraschungen. So, dachte ich mir, so müssten Verlagsprogramme aussehen!
Wir sollten weniger auf Programmplätze und auf Programmzuschnitt schauen, sollten nicht so sehr in Genre-Kategorien denken. Denn alles das, engt uns ein und nimmt uns sowohl die Lust am Entdecken wie auch die Chancen für Neues. Dieses Schubladendenken ist kleinkariert und rückwärtsgewandt. Das hat eine Branche, die vor Kreativität sprüht wie das Verlagswesen, doch gar nicht nötig. Lassen wir der Fantasie ihren Lauf, entfesseln wir unseren Enthusiasmus für große Geschichten, spannende Themen, lebendiges Erzählen. Nur Tote tragen Karos!