Die ZEIT-Journalistin Katrin Hörnlein hat ein Buch über Astrid Lindgren geschrieben, das vor kurzem erschienen ist: Eine wie sie fehlt in dieser Zeit. Erinnerungen an Astrid Lindgren (Oetinger) ist keine weitere klassische Biografie, sondern eher eine persönliche Spurensuche. Anlass für Fragen an die Autorin, die bei der ZEIT verantwortlich für die Kinder- und Jugendliteratur sowie Vorsitzende des LUCHS-Preises ist.
Bücher über Astrid Lindgren gibt es bereits eine Menge, schreiben Sie selbst im Vorwort Ihres Buches. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, trotzdem noch eines zu schreiben?
Katrin Hörnlein: Bei der Recherche für einen Artikel, der zum 75. Geburtstag von Pippi Langstrumpf in der ZEIT erschienen ist. Als ich damals in Schweden unterwegs war und einige Angehörige und Weggefährten traf, kam mir die Idee, Erinnerungen an Lindgren zusammenzutragen. Was ich außerdem dachte: Einige von Lindgrens Wegbegleiterinnen sind schon sehr alt; wer weiß, wie lange man noch mit ihnen sprechen kann. Lindgrens Illustratorin Ilon Wikland und ihre Biografin Margareta Strömstedt wollten und konnten aus gesundheitlichen Gründen dann auch schon keine Interviews mehr geben. Kurz nachdem mein Buch erschien, ist Lindgrens frühere Privatsekretärin und Freundin Kerstin Kvint verstorben. Sie konnte ich noch zweimal treffen und ihre Erinnerungen bewahren.
Wie sahen Ihre Recherchen aus? Wie viel Zeit haben Sie in Schweden verbracht?
Nicht so viel Zeit, wie ich gern gewollt hätte, denn Teile meiner Recherchen fielen in die Corona-Pandemie. Ich musste mich von einigen Reiseplänen verabschieden und stattdessen auf digitale Treffen oder Telefonate für Interviews umschwenken. Umso glücklicher bin ich, dass manche Reise dennoch möglich war, dass ich mit Lindgrens Tochter Karin und ihrer Enkelin Malin einen Tag im Sommerhaus in den Schären verbringen, mit den Kindern des Illustrators Björn Berg die Michel-Bilder im Original ansehen und das Geburtshaus sowie die Astrid Lindgren Welt in Vimmerby besuchen konnte. Und natürlich war Lesen ein wichtiger Teil meiner Recherche. Astrid Lindgren selbst konnte mir keine Fragen mehr beantworten. Sie „spricht“ deshalb aus Briefen, Tagebucheinträgen, früheren Interviews und natürlich ihren Geschichten.
Als Redakteurin sind Sie es gewohnt, wöchentlich Texte abzuliefern. Wie haben Sie das Arbeiten an einem Buch erlebt? Haben Sie pünktlich abgegeben?
Sogar überpünktlich – zum Glück! Denn leider fiel die Abgabe meines Buchs zusammen mit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine. In der Redaktion waren alle in dieser Zeit gefordert und eingebunden wie selten. Da hätte ich weder Zeit noch die Nerven gehabt, an meinem Manuskript zu arbeiten.
Das Langstrecken-Schreiben hat mir große Freude gemacht. Ich hatte mir eine kleine Auszeit in der Redaktion genommen, um mich ganz dem Buch widmen zu können. In einer ersten Phase habe ich mein Material sortiert und organisiert und mir dann selbst einen ziemlich sportlichen Schreibplan auferlegt. Es gab Tage, an denen ich 50.000 bis 60.000 Zeichen Manuskript produziert habe. Das war anstrengend, aber auch ein großer Spaß und Luxus. In meiner Redaktionsarbeit ist die Zeitungsseite immer irgendwann voll. Hier konnte ich erst mal schreiben, schreiben, schreiben. Allerdings habe ich die erste Manuskript-Fassung dann auch wieder um ein Drittel eingekürzt. Buchseiten sind ja auch irgendwann voll.
Was konkret meinen Sie mit dem Titel Ihres Buches? Welche Charaktereigenschaft fehlt in dieser Zeit? Wie würde Astrid Lindgren zum Beispiel jungen Klimaschützer:innen unserer Zeit begegnen?
Die Frage: „Fehlt eine wie sie in dieser Zeit?“, habe ich vielen meiner Gesprächspartner:innen zum Abschluss gestellt, und, wenig überraschend, haben die meisten sie bejaht. Aus den unterschiedlichsten Gründen: Weil Lindgrens Geschichten für viele Menschen im Leben wichtig sind, weil sie sich für die Rechte von Kindern eingesetzt hat, weil sie Missstände nicht bloß beklagt, sondern versucht hat, etwas dagegen zu tun.
Auf hypothetische Fragen, zum Beispiel wie Lindgren heute jungen Klimaschützern begegnen würde, kann natürlich niemand sichere Antworten geben. Das betont auch ihre Familie immer sehr. Lindgrens Tochter Karin sagte mir aber zumindest, sie sei sicher, dass Astrid Greta Thunberg unterstützt und sich gut mir ihr verstanden hätte. „Aber man weiß nicht, was Greta dazu sagen würde“, ergänzte Karin.
Haben Sie auch negative Seiten an Astrid Lindgren entdeckt?
Ich habe Erinnerungen gesammelt und wir alle kennen es doch, dass man sich rückblickend lieber an die guten Seiten erinnert. Zudem habe ich schon den Eindruck, dass es bei der Familie eine Art ungeschriebenen Erinnerungs-Kanon gibt. Was nicht zu dem passt, wird lieber ausgespart. Wenn mir aus der Recherche etwas als „negativ“ in Erinnerung geblieben ist, dann vielleicht die Art, wie Lindgren vieles mit sich ganz allein ausmachte. Dass es ihr offenbar schwer fiel Hilfe anzunehmen, obgleich sie selbst anderen stets zu Hilfe eilte. Damit hat sie aber nicht anderen geschadet, sondern höchstens sich selbst das Leben schwer gemacht.
Sie haben u.a. recherchiert, wie Astrid Lindgren ihre Texte geschrieben und an ihnen geschliffen hat. Was haben Sie daraus für Ihr eigenes Schreiben mitgenommen?
Es erscheint mir sehr vermessen, mein Schreiben mit dem Astrid Lindgrens zu vergleichen. Wenn ich auf einer abstrakten Ebene sagen würde: Man lernt von den Besten ohne jemals an sie heranzureichen, dann kann ich mir vielleicht von Lindgren abschauen, wie sehr es lohnt, wieder und wieder an seinen Texten zu feilen, immer nach genau dem passenden Wort zu suchen, die Bedeutung des Geschriebenen zu hinterfragen.
Und welches ist Ihr Lieblingsbuch von Astrid Lindgren?
Es ist nicht eins, es sind viele – je nach Lebensphase und -situation. Seit meiner Kindheit war ich wieder und wieder in Ferien auf Saltkrokan zu Gast – anfangs habe ich das Hörspiel gehört, später den Roman gelesen. Diese Schäreninsel ist Sehnsuchtsort und Heimat zugleich. Die Brüder Löwenherz haben mich als Kind genauso berührt wie heute als Erwachsene, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Mit meinem Patenkind, das inzwischen erwachsen ist, habe ich vor Jahren als Vorleserin die Lotta-Bilderbücher entdeckt, mit meinem Sohn lese ich zu unserer beider Vergnügen Michel.
Die Fragen stellte Susanna Wengeler