Thilo Schmid über positive Signale aus der Jugendbuchszene „Wir alle kaufen uns – digital geschützt vor dem analogen Virus – im Wortsinne tot“

Bei vielen Verlagen liegen die Umsätze teilweise dramatisch unter dem Vorjahr, aber aus der Kinder- und Jugendbuchszene hören wir eher positive Signale. Deuten wir das richtig? Das war Anlass für unser heutiges Sonntagsgespräch mit Thilo Schmid, dem Geschäftsführer Vertrieb und Marketing der Verlagsgruppe Oetinger:

Thilo Schmid: „Ich meine den Verlust des Gemeinschaftssinnes. Fast alle in der Branche stehen längst mit dem Rücken zur Wand, die Konditionsschere spreizt sich munter weiter. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Durchschnittspreise wieder gesunken sind und die Köpfe stecken tief im Sand“

 

BuchMarkt:  Während um uns herum viele Firmen um ihre Zukunft ringen, hören wir aus den Kinder- und Jugendbuchhörnern positive Klänge.

Thilo Schmid: Die Signale deutest Du richtig, die Umsätze im Kinderbuchsegment steigen kontinuierlich, die Familien lesen!

Also Grund zur Freude? 

Kurzfristig gedacht, ja. Bei genauerer Betrachtung sehen wir aber, dass die Umsätze, die derzeit bei uns generiert werden, vor allem aus dem renditeschwachen e-Commerce Geschäft stammen.

Im Vorgespräch hattest Du mir gesagt, es gäbe aber noch einen anderen Haken.

Ja, die Freude muss derzeit verhalten bleiben, weil wir Kinder- und Jugendbuchverlage wissen, dass wir nur ein Teil von etwas Größerem sind und dass wir nur dann wirklich zuversichtlich sein dürfen, wenn die Gesamtentwicklung der Branche und der Wirtschaft uns Grund dafür liefern. Und danach sieht es nun einmal leider nicht aus…

Wir wollten eigentlich gute Nachrichten vertiefen. 

Das würde ich gern, aber ich rechne mit dem Gegenteil. Der Herbst wirkt derzeit golden, aber es ist ein Frühling der Ernüchterung mit einer Vielzahl von Insolvenzen zu erwarten.

Und das angesichts der Entwicklung in Richtung e-Commerce … 

 die beileibe nicht gestoppt ist. Und die ist ja nicht buchspezifisch, sondern eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung.

Das solltest Du genauer begründen.

Der Onlinebuchhändler, der im Juli 1995 sein erstes Buch verkauft hat, setzt heute weit über 280 Milliarden Dollar per anno um – mit a l l e m, was wir glauben zum Leben zu brauchen.

Was regt Dich dabei so auf? 

Die Bücher waren der Türöffner in die Häuser und Wohnungen der Menschen. Einmal „drin“ hat sich der einstige Buchhändler zum vermeintlichen Schlaraffenland gemausert. Und wir alle kommen und fressen, bis wir gefressen werden.

Das ist sehr deutlich …

… ist es ja auch: Das rasante Wachstum wurde nun durch CORONA wie durch einen zusätzlich gezündeten Turbolader noch einmal beschleunigt. 175.000 Arbeitsplätze sind weltweit durch Amazon allein im ersten Quartal geschaffen worden und allerorten wachsen die Verteilerzentren aus dem Boden wie Fliegenpilze. Und Corona bringt neben der Angst leider noch etwas anderes mit sich: eine wunderbare Entschuldigung und zusätzliche Rechtfertigung für unsere mangelnde gesellschafts- und wirtschaftsstrukturelle Weitsicht.

Was meinst Du jetzt damit?

Wir alle kaufen uns – digital geschützt vor dem analogen Virus – im Wortsinne tot … Und mit jedem Klick entfernen wir uns mehr von den stationären Angeboten, dem Anker unserer gesellschaftlichen Zukunft.

Du meinst, bis es sie nicht mehr gibt? 

Die aktuellen Leerstände und Verhältnisse in den dystopischen Innenstädten und steigende Arbeitslosenzahlen sollten uns vor Augen führen, wohin wir uns da alle miteinander „klicken“ und welche Folgen das kurzfristig für das System und mittelfristig für das eigene Leben haben wird.

Welche Folgen wären das?

Was wir dadurch alle irgendwann unwiderruflich verloren haben werden: Die Demokratie und die Struktur der Vielfalt, und ein stabilisierendes System, in dem ein Großteil der Bevölkerung in sinnstiftender Arbeit und Lohn steht und in dem der unternehmerische Mittelstand – als Rückgrat des Landes – die Steuern erwirtschaftet, die wir für den Erhalt unserer Strukturen und für die Herstellung unserer Zukunftsfähigkeit benötigen.

Wir müssen also überlegen, wie und wo wir noch handeln können? 

Es braut sich nicht erst etwas zusammen, wir stehen bereits mitten im Gewitter. Wir müssen schleunigst Blitzableiter auf den Häusern der Wirtschaft und der Demokratie installieren. Ironischerweise können ausgerechnet diese Blitzableiter digital sein.

Da kann ich Dir jetzt nicht auf Anhieb folgen.

Wir müssen den Konsumenten, den Menschen vor Augen führen, was sie an uns und durch den gesamten Einzelhandel in Deutschland haben. Und das müssen wir natürlich auch digital verstärken. Mancherorts wird das schon sichtbar und ich bin beeindruckt davon, was der Mittelstand gerade da schon unter schwierigsten Bedingungen leistet. Einige unserer Handelspartner berichten derzeit von positiven Umsatzentwicklungen – auch jenseits des Kinderbuchs – und von einer erfreulichen Wiederentdeckung des Lokalen. Von gelebter Solidarität. Genau betrachtet sind das jene, die die Krise als Veränderungsmotor genutzt haben. Die ihre Unternehmen und sich selbst aus den selbstgefälligen Komfortzonen bewegt haben.

Auch das müsstest Du mir präzisieren… 

Nicht jene, die in Kategorien stationärer versus Online-Handel denken, sondern jene, die mit Blick auf das Analoge und das Digitale handeln, werden überleben. 

Jene, für die das Digitale ein weiterer Raum im Weltgebäude geworden ist, der das Althergebrachte ergänzt und transformiert – und nicht ablöst. 

Jene, die ihre Kunden ernst nehmen und kennen, die wissen, dass sie die Kunden heute anders ansprechen müssen, als gestern. Die mit ihnen trotz Kontaktsperren verbunden sind. Das scheint mir der Schlüsselansatz für das Bestehen in einer Gegenwart und Zukunft zu sein, in der sich das Konsumverhalten der Menschen nachhaltig verändert hat – und komplexer und vielschichtiger bedient werden muss

Es wird also kein Zurück zu der gewohnten Normalität geben?

Nichts und niemand wird jemals wieder so sein wie vor Corona. Die Menschen werden anders, nachhaltiger und qualitätsbewusster kaufen. Sie werden weiterhin die bequemen, sicheren und attraktiven digitalen Angebote nutzen. Wenn wir es schaffen, ihnen die Vorteile des Hybriden aufzuzeigen und ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines (gesunden) Strukturerhalts vermitteln können, wenn wir Modernität und Tradition verbinden, werden die Konsumenten auch besonnener und bewusster bei uns einkaufen. 

Was tun also?

Wir brauchen eine neue Achtsamkeit bezüglich unserer Handels- und unserer innerstädtischen Strukturen. Und unsere Überlegungen müssen den individuellen Bedürfnissen nach Begegnung und Erlebnis Rechnung tragen. Diese Aufgabe ist sehr komplex, aber wir können Impulse geben und im Digitalen, wie im Analogen, mit an der Bewältigung dieser Aufgabe arbeiten.

Siehst Du denn einen Silberstreif am Horizont?

Ja, als zukunftsträchtig erlebe ich beispielsweise alle systemisch ganzheitlichen, kooperativen Ansätze einiger Einzelhändler, Filialisten und großen Verbänden. Das kollaborative Bespielen von Vertriebswegen, verschiedenen Touchpoints und Kommunikationskanälen und das partnerschaftliche Miteinander haben uns schon heute resilienter und adaptionsfähiger gemacht. Aber wir müssen die Wertschöpfung entlang der Kette, die uns verbindet, erhalten und noch weiter und transparenter aufeinander zugehen – endlich wieder zu einer gemeinsamen Haltung und einem grundlegenden Selbstverständnis zurückfinden.

Ich hatte von Dir Vorschläge erhofft.

Wir müssen damit aufhören, uns gegenseitig das Leben immer schwerer zu machen – die Herausforderungen „von außen“ sind schon schwer genug – und wir könnten sie gemeinsam viel leichter schultern.  Und wir müssen endlich damit aufhören, uns gegenseitig zu schaden und alle zusammen endlich gegen das angehen, was uns allen schadet.

Das ist jetzt etwas kryptisch …

… ich meine den Verlust des Gemeinschaftssinnes. Fast alle in der Branche stehen längst mit dem Rücken zur Wand, die Konditionsschere spreizt sich munter weiter. Die jüngsten Zahlen zeigen, dass die Durchschnittspreise wieder gesunken sind. Derzeit erleben wir, wie der Staat eingreifen muss, weil an vielen Stellen der Kette die Margen zu gering geworden sind, um die Kosten zu tragen. Von notwendigen Investitionen ganz zu schweigen, und die Köpfe stecken tief im Sand.

Aber wie kann das gut gehen?

Unsere Branche, unsere Leistungen, unsere Produkte sind hochattraktiv – aber diese Attraktivität bedarf auch der Sichtbarkeit und des Bewusstseins ihres Wertes. Es gibt Parameter jenseits von Preis und Bequemlichkeit, die ich als Bürger einzahlen muss, um sie zu erhalten. Werte, die das Fundament für die wirtschaftliche Stabilität bilden. Nur im Bekenntnis zu diesen Werten werden wir die Relevanz unserer Angebote und unserer Produkte dauerhaft erhalten können.

Bei Euch im Kinderbuch stellt sich die Wertefrage aber wohl nicht?

Dass sich der Kinder- und Jugendbuchbereich gerade so besonders gut behauptet, liegt nicht daran, dass er sich digital besonders gut verkaufen lässt, sondern daran, welche Relevanz die Menschen Geschichten zumessen.

Das ist doch ermutigend.

Das ist sogar für die gesamte Branche ermutigend, gerade in Krisenzeiten, gerade in Zeiten, in denen echte Begegnungen nur eingeschränkt möglich sind und in denen Schulen und Kitas geschlossen sind. In Zeiten, in denen den Familien, den Kindern und Jugendlichen mehr und mehr digitale Beschäftigungsblasen drohen und man Alternativerlebnisse bieten sollte und muss. Wiederum analog und digital. Es ist die Sehnsucht nach Emotionen, danach berührt zu werden, die unsere große Chance ist. Die Sehnsucht nach Verbundenheit.

Deine Hoffnung? 

Mit guten Geschichten und positiven Erlebnissen und vor allem mit einem beispielhaften Umgang miteinander in der Krise transportieren wir Lösungsansätze, die uns perspektivisch dabei helfen können, in der sich verändernden Welt zu leben und wirtschaftlich und menschlich zu ü b er leben. Gerade in Zeiten, in denen man zurückgezogener, vorsichtiger leben muss und in denen Angst vorherrscht, müssen wir uns bewusst sein, dass wir Zukunft nur gemeinsam schaffen können … und allen unsere Geschichte erzählen: Die Geschichte einer Branche, der es gelungen ist, sich zu verändern, ohne dabei ihre Werte, ihre Tradition zu verraten. Die sich transformiert hat. Gemeinsam.

Die Fragen stellte Christian von Zittwitz

Kommentare (1)
  1. BuchhändlerInnen waren und könnten noch immer die wichtigsten BereaterInnen für sinnvolle Kinderbücher sein. Eltern, aber auch ErzieherInnen und LehrerInnen suchen händeringend nach Büchern, die die Kinder wirklich lesen wollen.

    Gute Beratung heißt, mit KundInnen echte Gespräche führen, fragen, was das Kind schon kennt, was es gerne gelesen hat – oder welche Illustrationen es gut lesen konnte – und dann die bewährtesten, von Kindern geliebtesten Bücher zu empfehlen. Ich beobachte oft, dass Verlage vor allem ihre Nas bewerben, BuchhändlerInnen vor allem ihre persönlichen Lieblingsbücher empfehlen, und das sind dann oft Nas, weil die jetzt im Stapel vorliegen – aber das hilft den Kindern nicht.

    Übrigens noch eine grundsätzliche Ergänzung: es ist für Kinder entwürdigend, wenn sie nicht lesen können – es gibt inzwischen viele GymnasiastInnen, die nur stockend entziffern können – und wenn man sich schämt, dann hasst man, was man nicht kann, also Bücher, Geschriebenes. So kommt es dann zu den vielen Wutbürgern. Wenn man ihnen vorschlägt sich mal mit Fakten zu informieren, müssen sie das verhindern, es würde Lesekompetenz erfordern. Man kann leicht sehen, wie tief das Kind schon im Brunnen steckt.

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