Veranstaltungen Literatur und die Kulturhauptstadt Europas: Wie Chemnitz Leselust wecken will

„Was? Chemnitz?!“ Autor Stefan Tschök hat eine „Bedienungsanleitung für die Kulturhauptstadt“ geschrieben und tourt durch insgesamt 38 Orte entlang der Skulpturenschau „Purple Path“. Dort sammelt Stimmen rund um das Großereignis. (Foto: Jens Korch)

 

Ein Jahr lang dreht sich in Sachsens drittgrößter Stadt (fast) alles um ein Thema: Chemnitz ist Kulturhauptstadt Europas 2025 – und rechnet bei mehr als 1.000 Veranstaltungen mit insgesamt zwei Millionen Gästen. Was heißt das für die Buch- und Verlagsszene vor Ort?

Das Jahr geht gut los. „LeseLust goes Europa“ ist das Motto des ersten literarischen Kulturhauptstadt-Highlights. Die Fäden dafür laufen bei Uwe Hastreiter und seinen Mitstreiter:innen in der Stadtbibliothek Chemnitz zusammen. „Wir wollen mit dem fast dreiwöchigen Programm ein Netz spinnen – und über den Tellerrand hinausschauen”, sagt Hastreiter. Dafür kommt Literarisches aus Deutschland, Tschechien, Polen und der Ukraine auf den Teller – mit Konzertlesungen und Filmen, Schulworkshops und klassischen Buchvorstellungen. Den Auftakt etwa bestreitet der Ukrainer Jurij Andruchowytsch, der aus seinem Roman Radio Nacht liest und von Karbido-Trio begleitet wird. „Ein musikalisch-literarisches Experiment“, kündigen die Macher an (7.3.25, 19 Uhr, Weltecho). Außer in Chemnitz führen Veranstaltungen der „LeseLust“ auch ins polnische Wroclaw (Breslau), nach Usti nad Labem in Tschechien oder ins Erzgebirge. (Mehr: https://chemnitz2025.de/leselust-goes-europe/)

Chemnitz ist Kulturhauptstadt – und was haben wir davon? Das fragt Autor Stefan Tschök. Tschök ist diplomierter Verkehrswirtschaftler, war lange Zeit Sprecher der städtischen Verkehrsbetriebe. Und er hat den Bewerbungsprozess von Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas von Anfang an begleitet. Jetzt will er Stimmen zum Großevent in der Region sammeln – mit einer großen  Talk-und-Lese-Reihe. Immer im Gepäck: sein Buch Was? Chemnitz?! (Paperento Verlag) – eine „Bedienungsanleitung für die Kulturhauptstadt“, wie Tschök formuliert. Das ist seit November 2024 in der dritten Auflage erschienen und wird im Frühjahr auch auf Englisch veröffentlicht. Insgesamt 38 Städte und Gemeinden in ganz Südwestsachsen sind über eine Skulpturen-Schau namens „Purple Path“ mit Chemnitz verbunden. Alle diese Kommunen wird Tschök 2025 besuchen, lädt dort Kulturschaffende und Bewohner zum Gespräch über Sorgen und Nöte ein. Als Bestandsaufnahme entstand daraus ein Tour-Blog, der 2026 wiederum als Buch erscheinen wird – und so Menschen und Orte einbindet. (Mehr: https://www.schoenebuecher.net/kulturhauptstadt)

Überhaupt: Mitmachen ist angesagt bei der Kulturhauptstadt – ausdrücklich auch in Sachen Literatur. „Greif zur Feder, Chemnitz!“ etwa ist das Motto einer „Schreibwerkstatt“, die Autorinnen und Autoren aus Stadt und Umgebung zusammenbringt. Biographische Erfahrungen, erlebte Geschichten und ein persönlicher Blick auf die Zeit sollen dabei verarbeitet werden. Den Workshop leitet Arna Aley, die erste Literaturstipendiatin der Stadt Chemnitz mit Wurzeln in Litauen. „Greif zur Feder, Kumpel!“ war eine einst von Werner Bräuning geprägte Losung, mit der Arbeiter der DDR für Literatur überzeugt werden sollen. Bräunings Buch Rummelplatz wiederum gehört zu einem der großen Projekte der Oper Chemnitz im Kulturhauptstadtjahr. Erst 30 Jahre nach seinem Tod war der Roman über die Härten des Lebens im Uranabbau im Erzgebirge erschienen – und gilt als literarische Sensation. Im Herbst 2025 wird nun eine Oper zu Rummelplatz aufgeführt. Das Libretto hat Jenny Erpenbeck, Gewinnerin des International Booker Prize 2024, geschrieben, die Musik Ludger Vollmer. (Mehr: https://www.theater-chemnitz.de/spielplan/detailseite/rummelplatz) Die Ergebnisse der parallel zur Inszenierung stattfindenden „Schreibwerkstatt“ wiederum sollen als zweisprachiges Buch erscheinen – auf Polnisch und Deutsch – und später in beiden Ländern vorgestellt werden.

Und die Verlage?

Vergleichsweise übersichtlich ist die Verlagsszene in Chemnitz – ganz anders als in der „Verlagsstadt” Leipzig, auch wenn die längst nicht mehr als ihre Hochzeiten anknüpfen kann. Dennoch gibt es viele Initiativen. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels etwa hatte Anfang des Jahres Chemnitz als Ort für seine jährliche Netzwerk-Veranstaltungsreihe „Verlegte Weihnachten“ mit Händler:innen und Verlagen ausgewählt. Dabei tauschen sich Branchenvertreter:innen immer einen Monat nach Heiligabend über Pläne und Ideen aus und knüpfen Kontakte. „Dafür ist in der Zeit vor Jahresende keine Gelegenheit, denn das ist die Hauptsaison des Handels. Dabei ist dieser Austausch so wichtig“, sagt Mitorganisator Christian Wobst, dessen Verlag Edition Claus unter anderem einen ungewöhnlichen Reiseführer ins Programm gehoben hat. Spaziergänge durch Chemnitz heißt es, Autor und Chemnitz-Kenner Jens Kassner hat dafür Routen entlang von Kunst, Kultur und architektonischen Besonderheiten entwickelt.

Und der stationäre Buchhandel? Zeigt sich in der Kulturhauptstadt Chemnitz stets in Bewegung.

Beispiel Brühl – eine zu DDR-Zeiten angelegte Einkaufs– und Flaniermeile am Rand der Innenstadt. In der Elisenstraße sorgen Tina Kniep und Maximilian Gräber seit wenigen Monaten für die literarische Grundversorgung. Beide kommen aus der Nähe von München, haben bei einem Besuch in Chemnitz einen frisch geschlossenen Buchladen entdeckt. Worauf sie den ehemaligen Betreiber:innen kurzerhand eine Email schickten und Interesse bekundeten … Alte und neue Besitzer:innen wurden sich schnell einig. Kniep und Gräber haben Philosophie studiert, hatten zuletzt als Bürokraft und Lehrer gearbeitet. Und wagten nun den Neuanfang als Buchhändler:innen. Bilanz nach den ersten Monaten: „Uns gefällt es in Chemnitz – wir wollen hier nicht mehr weg“, sagen beide. Dass sie mit einer Übernahme den Buchladen gerettet haben, kommt indes nicht häufig vor, wie auch der Börsenverein als Branchenverband weiß.

Neu-Buchhändler:innen am Chemnitzer Brühl: Tina Kniep und Maximilian Gräber haben spontan einen Laden übernommen. (Foto: Jens Korch)

Beispiel Sonnenberg – ein Stadtteil mit viel Leerstand, teils maroder Bausubstanz und einer herausfordernden Sozialstruktur. Grund genug für die Macher des Katapult-Magazins aus Greifswald, hier ihren ersten Buchladen zu öffnen. (Anm. d. Red.: Am Gründer des Magazins, Benjamin Fredrich, hatte es zuletzt Kritik gegeben, s. SPIEGEL Online Plus-Artikel). Der Katapult-Kiosk an der Zietenstraße hat Titel des eigenen Verlags ebenso im Sortiment wie andere Bücher. Und hat sich seit Eröffnung zu einer beliebten Anlaufstelle für Bewohner:innen entwickelt.

Beispiel Bernsdorf – direkt an der Mensa der Technischen Universität (TU) hat Buchhändler Robert Aßmann vor drei Jahren die Universitas-Buchhandlung übernommen – als sein zweites Haus neben der Buchhandlung Max Müller in der Reitbahnstraße. An der TU setzt Aßmann vor allem auf Student:innen. Parallel organisiert er die Reihe „LiterTOUR“, die mit literarisch-musischen Texten quer durch Stadt und Region führt. Und dabei zum Beispiel Stefan Heym, gebürtiger Chemnitzer und bekanntester Sohn der Stadt, in den Fokus nimmt.

Beispiel Kaßberg – das Gründerzeit- und Jugendstilviertel ist mit der Buchhandlung Lessing und Kompanie, die von einem Verein betrieben wird, Anlaufstelle für Lesungen und feine Lektüre – mehrfach ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchhandelspreis. Buchhändler Klaus Kowalke hatte für den Auftritt der Kulturhauptstadt auf der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst eine Liste mit 50 Lesetipps zusammengestellt. Allesamt Bücher, die einen Bezug zur Stadt haben – von Patricia Holland-Moritz’ hier angesiedelter Coming-of-Age-Geschichte Kaßbergen über das Kapital von Karl Marx (zwischenzeitlich Namensgeber für die Stadt) bis zu Das Boot von Lothar-Günther Buchheim – der einst Ehrenbürger der Stadt war und dann die Urkunde nach Streit um eine Ausstellung zurückgab.

Bis Ende November 2025 läuft das Kulturhauptstadt-Programm in Chemnitz. Vielleicht weckt die sächsische Stadt auch mit Literatur Lust auf einen Besuch. Wie groß das Interesse bundesweit ist, bekamen die Organisator:innen des Krimiwettbewerbs „Tatort? Chemnitz!“ mit. Auf ein gutes Dutzend Einreichungen hatten sie gehofft. Am Ende kamen mehr als 100 spannende Kurzgeschichten aus dem ganzen Land an. Eine Jury wählte aus. Herausgekommen sind nun gleich zwei Bücher: Das Geheimnis des Luxor-Palastes und – passend zum großen Karl-Marx-Monument in der Innenstadt – Wer hat den Nischel geklaut? Beide Bände erscheinen im Paperento Verlag und werden zur Leipziger Buchmesse Ende März 2025 erstmals vorgestellt.

Chemnitz kriminell. Unterm strengen Blick von Karl Marx – der als überlebensgroße Bronzeplastik in der sächsischen Stadt steht – hat die Jury für Krimiwettbewerb „Tatort? Chemnitz!“ Platz genommen. Das Foto zeigt (v.l.n.r.) die Juror:innen Jana Kindt (Erste Polizeihauptkommissarin, ehemalige Pressesprecherin und jetzt Leiterin Fachdienst Prävention der Polizeidirektion Chemnitz), Prof. Dr. Frank Asbrock (Direktor des Zentrums für kriminologische Forschung Sachsen), Uwe Hastreiter (Stadtbibliothek Chemnitz), Prof. Dr. Bernadette Malinowski (Professorin für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Technischen Universität Chemnitz). (Foto: Jens Korch)

 

Jens Korch

Lesetipp: Sie wollen weiterlesen? Der MDR hat sich mit den Kulturkürzungen in Chemnitz beschäftigt.

Kommentare (2)
  1. Es gibt auch noch mehr Inhabergeführte Buchhandlungen in Chemnitz die sich engagieren !
    Zum Beispiel haben wir gerade den Vorlesewettbewerb mit dem Karl-Schmidt-Rottluff Gymnasium durchgeführt. Leider hatte dafür die Kulturhaupstadt Chemnitz keine Kapazitäten.
    Viele Grüße
    Iris Müller
    Humboldt und Agricola Buchhandlung

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