Der Ullstein-Verlag hat sich vor seine Autorin gestellt und die Vorwürfe umgehend zurückgewiesen. Das Manuskript von Annalena Baerbocks Buch sei im Verlag sorgfältig lektoriert worden. Die Aufzählung von allgemein zugänglichen Fakten, so Ullstein weiter, sei ebenso wenig urheberrechtlich geschützt wie einfache Formulierungen, mit denen solche Fakten transportiert werden. „Wir können keine Urheberrechtsverletzung erkennen“, teilte der Verlag mit.
Baerbock bzw. ihre Partei haben mittlerweile einen absoluten Experten eingeschaltet, den wohl bekanntesten deutschen Medienanwalt Christian Schertz, was zeigen dürfte, dass ihnen die Brisanz der Vorwürfe bewusst ist. Schertz wurde in einer Pressemitteilung der GRÜNEN wie folgt zitiert: „Ich kann nicht im Ansatz eine Urheberrechtsverletzung erkennen, da es sich bei den wenigen in Bezug genommenen Passagen um nichts anderes handelt, als um die Wiedergabe allgemein bekannter Fakten sowie politischer Ansichten“.
Mittlerweile äußerte sich Baerbock auch selbst. In einem „Brigitte“-Talk (https://m.bild.de/politik/inland/politik-inland/baerbock-bei-brigitte-talk-urheberrechtsverletzung-stimmt-nicht-76948824.bildMobile.html) legte sie wert auf die Feststellung. „kein Sachbuch geschrieben“ zu haben und erklärte ebenso kategorisch wie ungelenk „Urheberrechtsverletzung stimmt natürlich nicht.“
Beides ist so auch nicht richtig. Ihr Buch ist in der Warengruppe Sachbuch erschienen. Sollte es je – und sei es auch nur als begehrtes Anschauungs- bzw. Abschreckungsmaterial für künftige Politberatungs- und Urheberrechtsseminare – den Weg in die Bestsellerlisten schaffen, kommt es natürlich auf die Sachbuchliste. Und auch die Frage „Urheberrechtsverletzung ja oder nein“ muss differenzierter als per Dekret im „Brigitte“-Talk beurteilt werden.
Natürlich trifft zu, um nochmals auf die ursprüngliche Pressemitteilung einzugehen, dass niemand ein Copyright auf Fakten hat. Aber ebenso wichtig sollte der in der Pressemeldung und auch in vielen nachfolgendem Statements etwas zu kurz kommende Umstand sein, dass es durchaus darauf ankommen kann, welche Formulierungen genau verwendet werden, um Fakten zu erläutern, vor allem, wenn manche Formulierungen dann weitgehend unverändert übernommen werden.
Losgelöst von all dem medialen Getöse ist deshalb die Frage, ob Baerbock nun eine Urheberrechtsverletzung begangen hat oder nicht, gar nicht so leicht und eindeutig zu beantworten.
Manches spricht jedenfalls dafür, dass es wohl nicht in allen weitgehend übernommenen Passagen immer nur, wie von Ullstein vorgetragen, um eine einfach formulierte, sprich rechtlich schutzlose „Aufzählung von allgemein zugänglichen Fakten“ geht. Das Urheberrecht nämlich schützt bekanntlich bereits die „kleine Münze“, also auch Formulierungen von eher geringer schöpferischer Ausdruckskraft und Schöpfungshöhe, solange sie nur ausreichend individuelle Züge aufweisen. Erfüllt eine Formulierung also diese eher niederschwelligen Voraussetzungen für Urheberrechtsschutz, dann darf sie, selbst wenn sie als Kern ihres Inhalts bloße Fakten enthält, nur mit Zustimmung des Urhebers übernommen bzw. nur unter Quellenangabe und als Beleg für eigene Ausführungen zitiert werden.
Jedenfalls für den bekannten Urheberrechtsexperten RA Hertin, übrigens ehedem Kanzlei- Kollege von RA Schertz und offenbar nicht immer einer Meinung mit seinem jüngeren Kollegen, ist die Sache ohnehin klar. In Focus-Online äußert er sich so: „Mindestens eine Passage habe jedoch das Potential, für richtigen Ärger sorgen zu können, ergänzte der Medienrechtsexperte. „Die Textstelle von Seite 219 in dem Buch von Frau Baerbock, in der sie den US-Wissenschaftler Michael T. Klare zitiert, ohne ihn als Quelle zu nennen, ist eine klare Verletzung des Urheberrechts. Da besteht überhaupt kein Zweifel“, so der erfahrene Anwalt.
Bei der betreffenden Passage handelt es sich um Ausführungen, die der emeritierte Professor des Hamshire College in Amherst, Massachusetts, 2019 unter dem Titel „Kriegstreiber Klimawandel“ im Magazin „Internationale Politik“ veröffentlicht hatte. In dieser Textstelle stecken nach Einschätzung von Hertin „ausreichend viele schöpferische Eigenleistungen“ des US-Wissenschaftlers, die Baerbock dazu verpflichteten, den Autor als Quelle zu nennen. „So jedoch wirkt es, als wenn sie selbst diese Gedanken auf der Seite 219 in ihrem Buch formuliert hätte. Was sie aber offenbar nicht hat.“
Sollte die Bewertung von Anwalt Hertin zutreffen, wogegen wenig bis nichts spricht, und dies auch von einem evtl. befassten Gericht bestätigt werden und somit ergeben, dass unzulässige Übernahmen urheberrechtlich geschützter Fremdpassagen vorliegen, so könnte das durchaus zu zivilrechtlichen Unterlassungs- und Schadensersatzansprüchen der wahren Urheber*innen führen, durchzusetzen in dem in Verlagskreisen gefürchteten einstweiligen Verfügungsverfahren. Darüber hinaus macht sich sogar strafbar, wer in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ohne Einwilligung des Berechtigten ein Werk oder eine Bearbeitung oder Umgestaltung eines Werkes vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergibt. Das kann mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft werden.
Als Verlag, und insoweit kann man gut mit Ullstein fühlen, gibt es nur bedingt eine Absicherung gegen die Gefahr von mglw. unzulässigen Übernahmen seiner Autor*innen aus fremden Quellen. Üblicherweise versichern Autor*innen im Verlagsvertrag und stehen dafür ein, dass Zitate nur im gesetzlich zulässigen Rahmen verwendet, also nur als Beleg für eigene, neue Ausführungen verwendet und hinreichend kenntlich gemacht und mit einer Quellenangabe versehen werden. Zugleich sichern Autor*innen zu und stehen dafür ein, dass keine urheberrechtlich relevanten Entnahmen aus Online-Enzyklopädien wie Wikipedia getätigt werden. Wer dagegen verstößt, riskiert vertragsrechtlich die Kündigung und Regressansprüche seines Verlages.
Der neueste Vorwurf des Plagiatsjägers Weber in der NZZ , er verstehe nicht, warum Ullstein das Buch nicht vor dessen Erscheinen einer Plagiatsprüfung unterzogen habe, ist zu entgegnen, dass eine solche generelle Prüfung bislang nicht Standard bei deutschen Buchverlagen ist. Dies galt sicher auch und insbesondere für bis vor Kurzem unter Seriositätsverdacht stehende Jung-Autor*innen wie etwa selbst erklärte Völkerrechtler*innen und potentielle Bundeskanzler*innen. Ohnehin sind viele mögliche Primärquellen nicht öffentlich zugänglich und deshalb auch für Plagiatssoftwares nicht ohne weiteres „greifbar“. Dem Ullstein-Verlag deshalb via NZZ «Schlamperei, Unsauberkeit und ein dilettantisches Vorgehen» vorzuwerfen, dürfte jedenfalls der Komplexität der Situation nicht gerecht werden.
Rainer Dresen
Rainer Dresen arbeitet als Rechtsanwalt und Verlagsjustitiar in München auf dem Gebiet des Urheber- und Medienrechts.