Renommierte Literaturkritiker*innen nennen monatlich – in freier Auswahl – vier Buch-Neuerscheinungen, denen sie möglichst viele Leser*innen wünschen, und geben ihnen Punkte (15, 10, 6, 3).
1.Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee (Suhrkamp Verlag)
Ralf Rothmann schließt seine Weltkriegs-Trilogie mit diesem Roman ab und führt seine Figuren in die junge Bundesrepublik. Seine Sprache ist realistisch, seine Beschreibungen suchen in ihrer Präzision ihresgleichen. Ein Buch, das Traumata beschreibt, die bis in die Gegenwart hineinreichen.
2.Daniela Dröscher: Lügen über meine Mutter (Kiepenheuer & Witsch Verlag)
Aufwachsen in Westdeutschland und in der Hochzeit der Kohl-Ära. Die Mutter ist übergewichtig; der Vater macht diese Bürde für all seine unerfüllten Sehnsüchte verantwortlich. Die erwachsene Tochter vergegenwärtigt sich diese Zeit später noch einmal. Eine autofiktionale Milieuerkundung.
3.Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle Erinnerungen (Hanser Verlag)
Werner Herzog wird 80 Jahre alt – Zeit für seine Lebenserinnerungen. Der Regisseur und Autor rekonstruiert sein Leben episodisch, mit Blick für das sprechende Detail. Er erzählt vom Unterwegssein, von der Sehnsucht nach Erlebnissen, vom Hunger nach Aufbrüchen. Ein Leben, reich an Erfahrungen, reich an Einfällen.
4.George Saunders: Bei Regen in einem Teich schwimmen – Von den russischen Meistern lesen, schreiben und leben lernen/Übersetzt aus dem Amerikanischen von Frank Heibert (Luchterhand Literaturverlag)
George Saunders lehrt Kreatives Schreiben an der Universität von Syracuse. In „Bei Regen in einem Teich schwimmen“ führt er fragend durch sieben Erzählungen von russischen Meistern, von Tschechow bis Gogol. Das ist lehrreich, aber nie belehrend oder gar dünkelhaft. Stattdessen geschmeidig, witzig und eloquent.
5.Durs Grünbein: Äquidistanz. Gedichte (Suhrkamp Verlag)
Grünbein ist in seinem Schreiben sanftmütiger, offener geworden, aber seinen Themenfeldern treu geblieben: Es geht um den Körper und den Blick darauf. Und um das Historische im Verhältnis zum Ästhetischen. Die Wissenschaft und die Kunst – das sind die Pole, zwischen denen Grünbeins Gedichte sich bewegen.
6.Jürgen Becker: Die Rückkehr der Gewohnheiten Journalgedichte (Suhrkamp Verlag)
Im Juli feierte Jürgen Becker seinen 90. Geburtstag. Zu diesem Anlass sind seine gesammelten Gedichte auf rund 1000 Seiten erschienen. Hinzu kam dieser schmale Band: Prosanotizen, Gedichte, flüchtige Eindrücke, aus dem Augenblick heraus mitgeschrieben. Er sammelt ein, was bislang vergessen wurde.
7.Thomas Hürlimann: Der Rote Diamant (S. Fischer Verlag)
Ein Junge, der in den 1960er Jahren als Internatsschüler in einer Abtei in den Schweizer Bergen abgeliefert wird. Und die Suche nach einem Schatz der Habsburger, der hier versteckt sein soll. Dieser philosophische Abenteuerroman erzählt von einer Welt, an deren Mauern der Epochenwechsel anbrandet und in der die Mythen blühen.
8.Norbert Scheuer: Mutabor (C.H. Beck Verlag)
Scheuer schreibt weiter an seinem Urftland-Universum. In der Gegend rund um den Ort Kall in der Eifel entsteht seit zwei Jahrzehnten ein literarisches Universum von sich kreuzenden Lebensläufen und Geschichten. Hauptfigur dieses Mal: die junge Nina, die das Geheimnis ihrer Herkunft erkundet und auf Schweigen stößt.
9.Sigrid Nunez: Eine Feder auf dem Atem Gottes /Übersetzt aus dem Amerikanischen von Anette Grube (Aufbau Verlag)
Nunez‘ autobiografischer Erstling ist die Geschichte ihrer Eltern als Identitätspuzzle: Der Vater war halb Chinese, halb Latino und sprach nur ungern Englisch. Seine Frau lernte er als amerikanischer Soldat in Deutschland kennen. In den USA fühlte auch sie sich nie heimisch. Eine zweifache Integrationsverweigerung.
10. Marian Engel: Bär /Übersetzt aus dem Englischen von Gabriele Brößke (btb Verlag)
Eine Frau in der Wildnis Kanadas. Ein zahmer Bär, um den sie sich kümmert. Eine Liebesgeschichte. 1976 erstmals erschienen, setzt Engels Roman dem gängigen „male gaze“, dem männlich konnotierten Blick auf die Welt, eine dezidiert weibliche Perspektive entgegen und stellt zudem die Frage nach Machtverhältnissen.
10. Robert Stripling: Unter Stunden – Album I (Kookbooks Verlag)
Ein Werk von höchster sprachlicher Konzentration, an dem Stripling mehr als zehn Jahre gearbeitet hat, voll von Welt und Assoziationen und trotzdem kaum beschreibbar, so dicht sind Sätze und Motive gebaut, aneinandergeschlossen, ineinander verwoben. Erinnerung als sprunghaftes Strukturelement.
Die Jury Gerrit Bartels (Berlin) │Helmut Böttiger (Berlin) │ Michael Braun (Heidelberg) │ Gregor Dotzauer (Berlin) │ Martin Ebel (Zürich) │ Eberhard Falcke (München) │ Cornelia Geißler (Berlin) │ Sandra Kegel (Frankfurt) │ Dirk Knipphals (Berlin) │Sigrid Löffler (Berlin) │ Ijoma Mangold (Berlin) │ Klaus Nüchtern (Wien) │ Jutta Person (Berlin) │ Wiebke Porombka (Berlin) │ Iris Radisch (Hamburg) │ Ulrich Rüdenauer (Bad Mergentheim) │ Denis Scheck (Köln) │ Marie Schmidt (München) │ Christoph Schröder (Frankfurt) │ Julia Schröder (Stuttgart) │ Gustav Seibt (Berlin) │ Shirin Sojitrawalla (Wiesbaden) │Hubert Spiegel (Frankfurt) │ Nicola Steiner (Zürich) │ Daniela Strigl (Wien) │ Beate Tröger (Frankfurt) | Kirsten Voigt (Baden-Baden) │ Jan Wiele (Frankfurt) │ Insa Wilke (Berlin) │ Hubert Winkels (Köln)