Es ist eine der erstaunlichsten Erfolgsgeschichten der zeitgenössischen Literatur – weil der amerikanische Autor Kent Haruf mit eindringlichen Erzählungen vom Leben in einer Gesellschaft überzeugt, in der jeder einzelne Mensch zählt, wo selbst der Einsamste nicht allein gelassen wird und die Menschenwürde von Gescheiterten und Schwachen nicht verletzt wird. Warum Kent Harufs Roman Abendrot so besonders ist und wir uns schon auf den nächsten Roman von ihm freuen dürfen.
„Hoit, eine Kleinstadt im Herzen Colorados“ – was für ein Zauber verbindet sich eigentlich mit dem Ortsnamen Holt, dass er zum Kauf eines Romans verlocken könnte? Was für einen Anreiz muss „eine Kleinstadt“ haben, um Zigtausende – weltweit zig Hunderttausende – zum Lesen eines Romans bewegen zu können, der dort spielt? Welche positiven Erwartungen weckt ausgerechnet ein Kaff „im Herzen Colorados“? Ist das vielleicht eine romantische Traumregion, über die Touristen vor Antritt einer Reise erwartungsvoll oder nach einem Urlaub in nostalgischer Erinnerung zu einem Roman greifen?
Was also hat Diogenes dazu gebracht – ein Verlagshaus, das für sein geschicktes Marketing und seine guten Antennen zu Lesern bekannt ist -, den Werbetext auf der Rückseite des Schutzumschlags von Kent Harufs Roman Abendrot mit solch einem geographischen Gongschlag einzuläuten, wie er sonst eher im Marketing von Krimis üblich ist? Ganz, als sei Holt ein magnetischer Anziehungspunkt wie Venedig und Florenz, der US-Bundesstaat Colorado eine Sehnsuchtsregion wie die Provence oder eine mit mordsmäßig unterhaltsamen Spannungsversprechen geladene Vorzeigekulisse der großen weiten Welt, die Erlösung von der stressenden Routine oder langweiligen Tristesse des Alltags verspricht?
Das alles kann es jedoch nicht sein. Denn dieses „Holt“ liegt fernab der Rocky Mountains, der Nationalparks, mondänen Ski-Gebiete, illustren Bildungs-, Kultur- und Jet-Set-Zentren wie Aspen im westlichen Teil des Landes, den Colorado zur Fremdenverkehrswerbung nutzt. Holt liegt im östlichen Colorado – in der großen Prairie, einer endlosen, nur spärlich besiedelten Steppenlandschaft mit Weizen-, Sonnenblumen-, Maisfeldern und Viehweiden. Die Kleinstädte sind ohne Denk- und Sehenswürdigkeiten. Das Leben in ihren Mauern steht in dem Ruf, grau und provinziell zu sein. Und keine wäre als Tatort von sensationellen Verbrechen oder etwa als geheimnisvoller Herkunftsort bzw. als Schlupfwinkel irgendeines legendären Kriminellen medial nutzbar.
„Holt“ ist auf keiner Landkarte zu finden. Es ist ein ganz besonderes Städtchen, das es nur in der Literatur gibt – exklusiv in den Romanen von Kent Haruf. Er hat das künstlerisch überzeugende, lebensnahe Portrait einer Kommune geschaffen, das wie ein Gegenbild zu den in unserer globalisierten vorherrschenden Trends wirkt. Und es ist eine begeisterte Gemeinde von Leserinnen und Lesern, die Kent Harufs „Holt“ international zum Inbegriff eines wünschenswerten sozialen Lebens im Sinne von Menschlichkeit und Menschenwürde gemacht hat.
Ja, mehr noch: Eine Kleinstadt namens Holt gibt es in der Realität überhaupt nicht. Der fiktive Schauplatz dieses Namens ist ein Mixtum Compositum, das Kent Haruf aus real existierenden Kleinstädten der Prairie im östlichen Colorado zusammengesetzt hat. Insofern ist sie authentisch. Damit hat er es freilich nicht darauf abgesehen, eine möglichst spektakuläre Kulisse aufzubauen. Er hat vielmehr eine wahre Treffsicherheit darin entwickelt, sozusagen mit wenigen Strichen eine superb richtige Lokalatmosphäre zu erzeugen, die aber irgendwie nie Aufsehen sich erregt. Ihm war daran gelegen, dass der Leser nicht durch Äußerlichkeiten abgelenkt wird. Zu diesem Zweck hat er seine sechs Romane alle miteinander auch in derselben Szenerie beheimatet – was dann dazu geführt hat, dass die Leser sich über die Lektüre eines einzelnen Romans hinweg eben mit Holt“ identifizieren. So hat schließlich ein außerordentlich starker Gesamteindruck, sozusagen der „Mythos Holt“ entstehen können.
Dazu hat auch eine zweite erzählerische Besonderheit Kent Harufs wesentlich beigetragen: Er verzichtet in seinen Romanen auf eine übergreifende Handlung, die von der ersten bis zur letzten Seite alles unter den üblichen großen, hohen Bogen spannt, der das Augenmerk auf sich zieht. So ist das Abendrot wie ein wunderbarer großer, alter Gobelin, in dem Szene um Szene, Bild für Bild neben- und miteinander voll und gleichrangig groß in den Blick kommen.
Schließlich, als dritter entscheidender Faktor: Bei Kent Haruf fehlen – so auch im Abendrot – herausragende Figuren, „Helden“, um die sich letztlich alles dreht, auf deren Persönlichkeit, Lebensperspektive, Schicksal und Welt-Anschauung der Leser so fokussiert wird, dass er den Roman quasi mit ihnen gleichsetzt. Es sind gewöhnliche, einfache Menschen – mit Schicksalen, Sorgen und Nöten, mit dem bisschen Glück und dem Wunsch nach ein bisschen mehr, wie sie uns allen vertraut sind – von denen Kent Haruf erzählt. Sie kommen aus mittleren, kleinbürgerlichen und unteren Kreisen: Jeder und jede mit einer anderen, besonderen Geschichte. Und der eine wird vom Erzähler Kent Haruf so ernst und wichtig genommen wie der andere. Sie haben sich bei ihm auch nicht voneinander ab, sie sind für-, in- mit- und untereinander verknüpft. Und auf diese Weise wird „Holt“ zu einem wahren – fast möchte man sagen: demokratischem – Bild und Symbol kommunalen menschlichen und sozialen Lebens.
Da ist nun von allen Seiten, von Literaturkritikern, Leserinnen und Lesern und immer wieder gesagt und geschrieben worden: Dieser Autor zeichne in seinen Romanen ausnahmslos alle Charaktere mit großer Sympathie und geradezu empathischen Verständnis – eben das mache ihn selber und seine Romane so überaus liebenswert und sympathisch. Und damit haben diese Leser natürlich völlig recht.
Ihre ganze Eigenart und Bedeutung ist damit allerdings noch keineswegs erfasst. Wie einzigartig Kent Haruf in der Gegenwartsliteratur, wie bedeutsam er für uns heute ist, kam mir erst in den Sinn, als ich mich an Worte von Graham Greene über einen englischen Ausnahmeschriftsteller des 19. Jahrhunderts erinnerte: Anthony Trollope habe in seinen (bis heute populären) Romanen, so Graham Greene , über die rare Kunst verfügt, auch die menschlich Ärmsten und sozial Verachteten specie aeternitatis darzustellen. Von Kent Haruf und seinen Menschen in „Holt, Colorardo“ könnte man Ähnliches behaupten wie von Anthony Trollope und seinen Charakteten in seinen Barchester -Romanen. Und wenngleich bei Haruf nach meiner Erinnerung nirgends ausdrücklich von Gott, vor dem jeder Mensch von Bedeutung ist und alle Menschen gleich sind, die Rede ist, ließe sich hier doch Änliches behaupten.
Gibt es einen anderen zeitgenössischen Autor, einen anderen Roman, der die fundamentale Idee der westlichen Welt, die Vorstellung von der Individualität und Würde des Menschen so anschaulich, konsequent und überzeugend in moderne Literatur umgesetzt hat? Es ist, wie Larry Siedentop in seinem grundlegenden Buch Die Erfindung des Individuums (bei Klett-Cotta 2015) dargelegt hat, eine ursprünglich religiöse Idee, die aus dem Christentum kommt. Kent Haruf hat sie für unsere Zeit erzählerisch übersetzt. Abendrot strahlt eine fast mystische visionäre Kraft aus. Das gilt auch für Harufs nächsten Roman, der deutsch Mitte des Jahres bei Diogenes erscheint.
Regelmäßig schreibt hier Gerhard Beckmann über „große Bücher“, für Ihre Gespräche mit Kunden, die auf der Suche sind nach besonderem und relevantem Lesestoff.
Die Idee dahinter haben wir beim Start der Serie erläutert: Im BuchMarkt und auf buchmarkt.de wollen wir „große Bücher“ klar und deutlich profilieren. Und damit auch die deutschsprachigen Verlage darauf hinweisen, dass Bücher in erster Linie ein durch nichts anderes zu ersetzendes Medium zur Kommunikation mit und unter Menschen und Lesern ist, mit denen unsere Verlage darum auch wieder so zu kommunizieren lernen müssen, dass diese Bücher von den Menschen und interessierten Lesern überhaupt gefunden werden können, als Orientierungshilfen für Buchhändlerinnen und Buchhändler, insbesondere denen, die im Ladengeschäft „an der Front“ stehen.
Zuletzt schrieb Gerhard Beckmann über Gianricos Carofiglios neues Buch Drei Uhr morgens