Serie über Bücher, die Buchhändler und Leser bereichern können „Die wiedergewonnene Kraft des Geschichten-Erzählens in moderner Literatur“

Wie ein erfolgreicher Anti-Mafia-Staatsanwalt, Richter und Krimi-Schriftsteller zu einem bedeutenden literarischen Autor geworden ist: Gianricos Carofiglios neues Buch Drei Uhr morgens handelt von einem Wissenschaftler, der in seinem hochfliegenden Ehrgeiz scheitert und den mitmenschlichen Kontakt verliert. Eine exemplarische Vater-Sohn-Geschichte. Ein subtiler moderner Familienroman. Ein Meisterwerk der italienischen Literatur. Warum der Buchhandel aktuell und überhaupt stark gerade auf diesen Autor setzen sollte.

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Gianrico Carofiglio, Drei Uhr morgens. Roman. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Folio Verlag, 180 S., 25 Euro
Gianrico Carofiglio ist der dritte prominente europäische Jurist der Gegenwart – die anderen beiden sind Bernhard Schlink und Ferdinand von Schirach – , der in seinem Land zu einer öffentlichen Instanz und mit Romanen bzw. Erzählungen dann ein preisgekrönter Schriftsteller mit einer außergewöhnlich breiten internationalen Lesergemeinschaft geworden ist. In ihrer Entwicklung und literarischen Qualität gibt es jedoch hochinteressante markante Unterschiede.

Was Gianrico Carofiglio von Bernhard Schlink und Ferdinand von Schirach abhebt

So kreisen die Romane und Erzählungen von Bernhard Schlink – er ist ein renommierter Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, zuletzt an der  Berliner Humboldt Universität – vornehmlich um politische und gesellschaftliche Probleme. Sie betreffen das rechte Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit, das in Deutschland in Folge des Nazi-Staats aus dem Lot geraten war, der Menschen unter dem Schein von Recht und Gesetz zu krimineller Missachtung von Menschenrechten und Völkerrecht herausforderte. Bernhard Schlinks bekanntestes Buch, sein Roman Der Vorleser rührt an die fundamentale Frage einer deutschen Kollektivschuld und die Ethik des Umgangs mit Holocaust-Tätern in der Bundesrepublik.

Ferdinand von Schirachs Erzählungen und Romane gehen anscheinend auf Fallgeschichten aus seiner Anwaltspraxis zurück. Er ist ein (berühmter) Strafverteidiger, der sich gewissermaßen auch als Autor mit der Perspektive seiner Klienten identifiziert, die er vorwiegend als Opfer einer defizitären Justiz darstellt. Er schreibe – so bemerkte er anlässlich seines Romans Der Fall Collini, der auch seine Familiengeschichte verarbeitet, in einem Spiegel-Essay – über „die Nachkriegsjustiz, über Gerichte der Bundesrepublik, die grausam urteilten, über Richter, die für jeden Mord eines NS-Täters nur fünf Minuten Freiheitsstrafe verhängten, … über die Verbrechen in unserem Staat, über Rache, Schuld und die Dinge, an denen wir bis heute scheitern.“

Spannung von innen her – Gianrico Carofiglios Kriminalromane

Die Position und die Haltung Gianrico Carofiglios könnten da unterschiedlicher gar nicht sein. Er war in Bari lange als Staatsanwalt und als Richter führend im Kampf gegen das organisierte Verbrechen seiner apulischen Heimat tätig, war Berater einer Anti-Mafia-Kommission in Rom und als Mitglied des Senats da auch politisch aktiv. Um zur Aufklärung von Mafia-Verbrechen hinter die notorische Mauer des Schweigens, der „Omerta“, kommen zu können, hat er sich zu einem maßgeblichen Experten (und Fachbuch-Autor) für Vernehmungstechniken und psychologische Feinmethoden zur Auswertung der Aussagen von Zeugen und Angeklagten entwickelt.

Diese Ausrichtung ist auch ein Charakteristikum seiner Kriminalromane. Bei ihnen stehen nicht Plot und Action, stehen nicht Spannung, moralische Empörung über verbrecherische Taten und Täter oder Empathie mit den Opfern im Mittelpunkt. Da gibt es kein erzählerisches Ausmalen von Kulissen, Szenen und Personalien; keine welterklärenden reportagehaften Zusätze; keine quasi ins organische Textgewebe eingeschossene oder der Story  übergestülpte Themen öffentlicher Aufregungen Debatten. Gianrico Carofiglios Kriminalromane sind ganz und gar auf die polizeiliche, anwaltliche und gerichtliche Arbeit, auf die Offenlegung organisierten Verbrechens ausgerichtet. Da trifft jeder Satz ins Schwarze. Es verleiht den Kriminalromanen Carofiglios eine besondere Spannungsintensität. Sie haben eine authentische Spannung, die dem Leser das Gefühl des Miterlebens einer wichtigen Geschichte vermittelt. Das wird am zuletzt auf Deutsch im Goldmann Verlag erschienenen Titel beispielhaft deutlich.

Gianrico Carofiglios Kalter Sommer – ein singulär authentischer, wahrhafter Mafia-Krimi

Kalter Sommer ist ein herausragend fesselnder und aufschlussreicher zeitgenössischer Mafia-Roman. Das verleiht ihm hohe Relevanz gerade auch für Deutschland, wo die Politik und Gesetzgebung seit Jahrzehnten die Augen zumacht, so dass die Mafia von günstigen Rahmennedingungen für ihre dunklen Geschäfte profitiert und die Behörden sich offenbar auch mit ihrer Strafverfolgung schwertun. Wegen der Aufsehen erregenden aktuellen Gewalttätigkeiten zwischen Clans dürfte sich zudem großes Interesse bei einem breiten Lesepublikum wecken lassen. Er spielt Anfang der 1990er Jahre und handelt von einem blutigen Krieg zwischen den Grimaldis und den Lopez, nachdem  die Lopez einen minderjährigen Sohn der Grimaldis entführen und die Leiche des Jungen entdeckt wird. Im Gerichtsprozess kommt die ganze Dimension des Bandenkriegs mit all seinen Hintergründen und Verwicklungen ans Tageslicht. Der Roman enthüllt auf unübertreffliche Weise die Strukturen, Handlungs- und Denkweisen der Mafia.

Die Story und die Namen der Charaktere mögen fiktiv sein. Die Ermittlungen des Maresciallo Pietro Fenoglio, die Recherchen, Verhöre, Beweisführungen und Argumentationslinien der Staatsanwältin Gemma D’Angelo haben aber fast dokumentarische Qualität. Sie folgen, wie Carofiglio dem FAZ-Feuilleton-Redakteur Hannes Hintermeier 2018 erklärte, dem historischen Gerichtsprozess Prozess des Jahres 1992 in Bari, den Carofigli selbst führte. Der Gerichtsprozess war ein kommunikationswissenschaftliches und -strategisches Meisterstück, das im Kampf gegen die Mafia zu einem Durchbruch führte.

Gianrico Carofiglios Gerichtsroman Kalter Sommer ist die kreative Umsetzung dieser realen kommunikationsstrategischen Pionierleistung Carofiuglios. Literarische Qualität hat er  schon auf Grund des stringenten Zuschnitts, ohne Zuhilfenahme von genretypischen Unterhaltungseffekten. Wie bei allen Kriminalromanen Carofiglios kommt aber auch hier eine Tiefenebene zum Tragen: die Verankerung der Romanperspektive in bewusstseinsbildender großer Literatur. So trägt etwa der Maresciallo Fenoglio den Namen eines berühmten italienischen Autors, dessen Werke ihm obendrein viel bedeuten, und er ist durch die stetige Lektüre von kritischen Schriftstellern wie Alberto Moravia und Bertrand Russell geprägt.

Das Kernthema – aller Kriminalromane – Carofiglios jedoch betrifft die Gefahr, dass individuelle und gesellschaftliche Lebensbereiche hinter Mauern des Schweigens in Parallelwelten abgeschottet werden. Und Literatur ist für ihn, der von Kindheit an in ihr daheim ist und eigentlich Schriftsteller werden wollte, bis er sich aus pragmatischen Gründen für einen juristischen Beruf entschied, ein wesentliches Moment menschlicher Kultur und Tradition, ein exemplarisches Medium von Kommunikation im Aufbrechen solcher Mauern und Aufspüren von Wegen in die Freiheit. Darin liegt auch die tiefere, signalhafte Bedeutung der hohen literarischen Kunst des Argumentierens und Diskutierens, Fragens und Antwortens, Redens und Zuhörens, Reflektierens und Handelns im Kriminalroman Kalter Sommer.

Drei Uhr morgens – die befreiende Enthüllung eines verschwiegenen Lebenslaufs

Von diesem literarischen Hintergrund her ist Gianrico Carofiglio zu einem führenden forensischen Kommunikations-Experten und großen Kriminalschriftsteller geworden. Als Verfasser von Kriminalromanen hat ihn seine kreative Entwicklung nun wieder generell zur Literatur gebracht. Sein Roman Drei Uhr morgens handelt ebenfalls vom Problem des Schweigens zwischen Menschen, der Bedeutung eines Aufbruchs aus kommunikativer Abschottung – und der wichtigen Rolle, die eine nachhaltige, Generationen verbindende Literatur spielen kann.

Er schildert eine moderne Familie. Die Ehepartner – ehrgeizige, selbstbewusste Menschen, die in ihren wissenschaftlichen Berufen aufgehen – werden einander fremd und lassen sich scheiden. Der Sohn bleibt bei der Mutter, die ihm kaum etwas vom Vater erzählt. Den Vater, der sich zunehmend vor ihm zurückzieht und sich ihm gegenüber in Schweigen hüllt, sieht er nur mehr sporadisch. Der junge Antonio geht abgekehrt seine eigenen Wege, bis er zur endgültigen Heilung von einer schweren Krankheit – einer diagnostisch nicht erklärbaren Epilepsie – in Begleitung des Vaters einen französischen Spezialisten in Marseille aufzusuchen hat. Zum Kontrollabschluss der Therapie muss er 48 Stunden lang ohne Medikamente und ohne Schlaf durchhalten. In dieser Ausnahmesituation wird er mit dem Vater mit dem Vater vertraut, der ihm unentwegt zur Seite steht. Die beiden abenteuern für zwei Tage und Nächte gemeinsam durch die aufregende historische Innenstadt von Marseille. Und in den wachsend intimeren Gesprächen gewinnt Antonio erstmals Einblick in die Hoffnungen und Enttäuschungen, Euphorien und Abgründe eines erwachsenen, im Leben und im Beruf gescheiterten Mannes – und darin, was man aus solchem Leben fürs Leben lernen kann. Er beginnt die Welt zu verstehen.

Da ist Antonio 17 Jahre alt. In der Gegenwart des Romans hat er das Alter des Vaters zu jener Zeit erreicht und selbst in einer kritischen Phase des Lebens, in einer Art Midlife-Krisis steht, in der er nun die verschütteten Erinnerungen an die Marseiller Tage mit dem Vater aufruft. Die hilfreichen Gespräche mit dem Vater  gehen gewissermaßen in ein zukunftsorientiertes Gespräch mit sich selbst über. Und auch hier gewinnt das Erzählen Gianrico Carofiglios eine innere Spannung, die einen in keiner Minute des Lesens mehr loslässt. Es hat die Unmittelbarkeit mündlichen Erzählens im kleinsten Kreis, die Aura eines früheren verloren gegangenen menschlichen Kommunizierens, nach dem wir uns lange gesehnt haben und an dem wir hier teilhaben dürfen.

Drei Uhr morgens oder die wiedergewonnene Kraft des Geschichten-Erzählens in moderner Literatur

Ein Blick in Walter Benjamins Essay Der Erzähler über Nikolai Leskow hilft  die  große künstlerische Leistung dieses Romans verständlicher machen. Denn es scheint, dass Carofiglio hier eine in der modernen schriftlichen Literatur verlorengegangene alte mündliche Kultur wieder zum Leben gebracht hat, die Walter Benjamin hier verdeutlicht – die Kunst des Geschichtenerzählers, der Kunde von einem Abenteuer, einer Reise, einer wichtigen Arbeit gibt. Er vermittelt seinen Zuhörern eine außergewöhnliche Lebenserfahrung, die für sie höchst bedeutsam ist. Solche Geschichten waren kurz und prägnant. Man konnte sich ihrem Bann nicht entziehen. Sie gaben den Menschen Orientierung und Rat fürs Leben. Sie vermittelten, wie Walter Benjamin kurz und wundervoll bündig sagt, „Weisheit“. Drei Uhr morgens ist an solcher Lebensweisheit reich. Darum ist dieser Vater-Sohn-Roman in unserer Zeit, da die alten lebenswichtigen Kommunikationswege zwischen den Generationen verlorengegangen sind, so bedeutsam und eine Lektüre, die viele Leser anziehen und faszinieren wird – alte und junge Männer, aber, wie ich im Bekanntenkreis feststellen konnte, Leserinnen nicht minder. Es ist nämlich auch ein subtiler moderner Familienroman.

Regelmäßig schreibt hier Gerhard Beckmann über „große Bücher“,  für Ihre Gespräche mit Kunden, die auf der Suche sind nach besonderem und relevantem Lesestoff.  

Die Idee dahinter haben wir beim Start der Serie erläutert: Im BuchMarkt und auf buchmarkt.de wollen wir „große Bücher“ klar und deutlich profilieren. Und damit auch die deutschsprachigen Verlage darauf hinweisen, dass Bücher in erster Linie ein durch nichts anderes zu ersetzendes Medium zur Kommunikation mit und unter Menschen und Lesern ist, mit denen unsere Verlage  darum auch wieder so zu kommunizieren lernen müssen, dass diese Bücher von den Menschen und interessierten Lesern überhaupt gefunden werden können, als Orientierungshilfen für Buchhändlerinnen und Buchhändler, insbesondere denen, die im Ladengeschäft „an der Front“ stehen. 

Zuletzt schrieb Gerhard Beckmann über „Wann wird diese Hölle enden?“ von Mary Berg

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