Die Multimedia Messe Milia 2003 – Vom Verschwinden des alten Geistes und den zaghaften Versuchen, das neue Gesicht zu schminken – ein Bericht

Cannes, Anfang April 2003. Offensichtlich hat sich die Küche einen Scherz erlaubt: Das Steak, das der eine der drei Amerikaner, die an unserem Nebentisch sitzen und sich lauthals unterhalten, kommt sehr blutig und sieht exakt aus – ohne dass wir dabei Zwinkern müssten – wie die Landkarte Nordamerikas. Der Koch lugt mit spitzer Nase über den Tresen. Auch nach über 2 Wochen Krieg im Irak machen die Franzosen keinen Hehl daraus, dass sie diesen Krieg nicht für ein Spiel halten. „It’s not game and it’s not over!“, wie es der französische Außenminister so treffend formulierte. Das Steak unseres deutschen Tischnachbarn kommt kurz darauf, wie ein Steak eben kommt – keinerlei Auffälligkeiten.

Die Lage ist ernst, auch für das, was allgemeinhin als „Multimedia Industrie“ bezeichnet wird. Wie ernst und angespannt die Lage dieser Industrie wirklich ist, wird wahrscheinlich gerade hier, auf der Milia 2003 www.milia.com, der Messe für „International Publishing and New Media Market“, besonders gut spürbar. Mit ca. 1500 Teilnehmern aus 50 Ländern ist die Teilnehmerzahl im Vergleich zu vor 2 Jahren um ein gutes Drittel gesunken. Schon im Vorfeld machte der Veranstalter Reed Midem www.reedmidem.com klar: Die Milia 2003 wird etwas anders werden. Kurzerhand wurde sie mit der Film-Messe „Mip-TV“ www.miptv.com zusammengelegt. Diese aus der Not geborene, aber eigentlich gute Idee, die Milia unter die Fittiche der Mip-TV zu nehmen, hat der Veranstalter dann selbst wieder nivelliert. Reed Midem hat die Milia 2003 vom Palais du Festival in das gut 800 Meter entfernte Noga Hilton Hotel verlegt. Lediglich eine Zelthalle mit Milia-Ausstellern verblieb beim Palais. So fand die Milia 2003 in einem Hotel, in Suiten, in Tagungsräumen im Kellern ohne Fenster und Sonnenlicht und im Foyer des Hotels statt. Auch langjährige, treue Aussteller, die seit Beginn vor 10 Jahren dabei waren, wie die erfolgreiche Lern- und Sprachen-Software-Schmiede Digital Publishing von Armin Hopp fehlten dieses Jahr. Aufgegangen ist offensichtlich auch nicht das Konzept der letzten beiden Jahre sich an den Spiele-Markt, die Game-Industrie heranzupirschen – sie fehlte gänzlich. In gut 10 Minuten hat der Besucher die beiden mageren Ausstellungsräume im Keller abgegrast, genauso viel Aufwand ist es, das Ausstellungszelt am Palais abzugehen. Als einziger wirklicher Inhalte-Anbieter scheint der amerikanische Verlag Scholastic mit seinen CD-Roms vertreten zu sein. Aus Deutschland sind als „Content-Lieferanten“ nur der Tivola Verlag (Kinder CD-Roms) und der United Soft Media Verlag (CD-Roms) im Katalog zu entdecken.

Ob das, was wir hier sehen, die Zukunft der Milia sei, werden wir am nächsten Tag Laurine Garaude, die Leiterin der Milia, fragen. „It’s the beginning of a new face…“, wird sie klug und diplomatisch antworten. Sie wüsste, sagt sie, es sei noch sehr früh, die Bereiche Web und Film/TV zusammen zu führen, aber eben nicht zu früh. „Die digitalen Plattformen, wie das Web, das Mobiltelefon oder die Handhelds und die Fernsehindustrie werden immer weiter zusammenwachsen“, erklärt sie. Auf die doch recht reduzierte Ausstellungsbeteiligung angesprochen, antwortet sie, dass es den Teilnehmern eher um das „networking“, die Gespräche, Round-Table, Kontakte, Konferenzen usw. ginge, weniger um eine Präsentation ihrer Produkte. Und überhaupt sei sie überrascht, dass doch noch so viele, über 1500 Teilnehmer gekommen seien. Über die Lage der digitalen Wirtschaft – weltweit! – wüssten wir ja alle selbst Bescheid. Gut gebrüllt Löwe. Doch gestrichen wurde sowohl die Preisverleihung der „Milia d’Or Awards“ wie auch der vielgeliebte und -gelobte „New Talent Pavillion“, der die Brücke zwischen den kreativen Machern und dem Big Business schlug. Dabei wäre das 10jährige Bestehen der Milia ein Anlass zum Feiern in die richtige Richtung gewesen. Immerhin hat der Veranstalter es sich noch selbst ins Programmheft geschrieben: Nicholas Negroponte (Direktor des MIT Lab), Jaron Lanier (Künstler), Laurie Anderson (Musikerin), Douglas Adams (Autor), John Berry Barlow (EFF Gründer), Bob Stein (Voyager Gründer) – sie alle haben durch ihre Anwesenheit in den letzten Jahren das Gesicht und den Geist der Milia geprägt. Und wir erinnern uns auch an die, die dort gar nicht mehr stehen: Sherry Turkle (MIT & Autorin), Martin Springer (Convergence-Gründer), John Batelle (Journalist), John Maeda (MIT Lab & Designer), Jane Metcalfe (WIRED Gründerin), … So war es immer eine der größten Leistungen der Milia, den Blick über den Tellerrand hinaus zu wagen und neue Horizonte zu erschließen. Eben die Brückenfunktion zwischen Talent und Geschäft.

Ob der Verlust dieses Geistes mit dem Ausscheiden des Reed Midem CEO Xavier Roy und seinem Nachfolger, dem ehemaligen Nestle-Manager Paul Zilk, etwas zu tun habe, fragen wir Laurine Garaude. Doch diesmal zögert die Direktorin einen Moment zu lange, bevor sie sagt: „Nein, nein, … bestimmt nicht… gerade beim Konferenzprogramm haben wir uns doch die größte Mühe gegeben.“ Und die letzte Hälfte der Antwort stimmt. Aufgeteilt in die 3 Bereiche „Mobile Entertainment“, „Enhanced & iTV“ und „Broadband Content“ gibt es Dutzende von Vorträgen, Podiumsdiskussionen und Fallstudien. So hat sich beispielsweise Neil McDonald von „ditg“ www.ditg.tv einen der 339 Programmkanäle auf dem Satelliten des britischen Sky Channel gemietet. Dort betreibt er, nach eigenen Worten, „the world first 100% interactive live game channel“ mit Namen „Avago“ www.avago.tv. Via Sky Channel erreicht Avago in England 6,5 Millionen Haushalte oder knapp 18 Millionen Menschen. Avago ist eine Art Zahlenlotterie („Best Number“), das schnell und simpel gespielt werden kann, die Interaktivität entsteht durch das Drücken der Fernseh-Fernbedienung oder der Tasten eines Telefons. Fast 78 000 registierte Nutzer gibt es inzwischen, die hauptsächlich zwischen 22 Uhr und 1 Uhr in der Nacht spielen, und täglich sind darunter 650 Gewinner. Gespielt wird um Geld, um viel Geld, denn alleine in den letzten 30 Tagen hat Avago einen Umsatz von 500 000 englischen Pfund gemacht. Die wirkliche Interaktivität erwächst dadurch, dass das Studio die Spieler und Gewinner anruft und zuschaltet, vor, während und nach dem Zahlenspiel. Mit dem kostenlosen Einstieg („Play for fun“), der simplen Handhabung und der ständigen Interaktion mit den Zuschauern bzw. Spielern erinnert das Ganze an eine klassische Web-Community – nur eben auf dem Fernsehbildschirm. Ebenfalls um Geld geht es bei der Firma Tentendigital www.tentendigital.com, die via Sky Channel englische Pferderennen überträgt und das Wetten auf Pferde erlaubt. „At the race“ www.attherace.co.uk heißt der Kanal, der ursprünglich im Web im November 2000 startete. Ausgestattet mit unterschiedlichen Benutzer-Oberflächen für Web und TV hat At the race seitdem über 5 Millionen englischen Pfund umgesetzt. Das Prinzip erinnert an das Web-Auktionshaus für gebrauchte Güter aller Art Ebay: Je kürzer die Strecke zur Ziellinie, desto höher werden die Einsätze. Und weil es so gut funktioniert, wird Dennis Holland sein At the race-System in diesem Jahr in das Telewest Cable einspeisen und versuchen es für den Mobilfunk umzustricken: Bieten, was das Zeug hält!

So war denn auf der Milia 2003 die Zusammenführung von Film und TV mit dem (möglichst breitbandigen) Internet, kurz iTV genannt, das am besten – irgendwie – mit dem Mobilfunk zusammengebastelt wird, der wiederum möglichst unterhaltsam sein soll (Fallstudie: „From Hollywood to mobile“), das große Thema. Könnten wir annehmen. Das eigentliche Thema war natürlich: Wie lässt sich Geld verdienen mit diesem ganzen digitalen Kram? Deshalb standen funktionierende Geschäftsmodelle im Mittelpunkt des Interesses. Sicherlich kein Grund zum Feiern und für ein „neues Gesicht“ fehlte es da an etwas Rouge, aber gearbeitet werden muss ja trotzdem. Um aber der Milia ein neues, gut geschminktes Gesicht zu verleihen, bedarf es der Konzentration auf und der integrierten Zusammenführung ihrer Grundelemente: Inhalte, Digitalität, (Inter)-Aktivität, Kreativität und Business. Nächstes Jahr, so versprach es Laurine Garaude wenigstens, werde es auch den New Talent Pavillon wieder geben. Doch wir alle müssen sparen. Gemerkt hat das offenbar nur Frau Prof. Dr. Miriam Meckel, die Staatssekretärin für Medien in Nordrhein-Westfalen noch nicht. Sie hat für ihre Pressekonferenzen, Screenings und Happy Hours während der Mip-TV, wohl in Anlehnung an Thomas Haffa und seine EM-TV Empfänge, die Yacht L’Étranger angemietet. Wenn das Wolfgang Clement wüsste…

STEFAN BECHT

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