Die Sätze des Jahres „Gefühle sind keine Argumente“ – der etwas andere Jahresrückblick

Die übliche Art von Jahresrückblick zählt die Ereignisse auf, die prägend für das vergangene Jahr waren. Ebenso wichtig scheinen uns aber auch die Gedanken, die sich die handelnden Personen dazu gemacht haben. Ulrich Störiko-Blume notiert sich seit vielen Jahren solche Sätze, die ihm bedeutsam, prägnant und nachdenkenswert erscheinen – auch für unsere Branche und auch unabhängig davon, ob er deren Aussage teilt oder nicht. 

Wir verabschieden uns mit einem „Best-of“ der Fundstücke und wünschen Ihnen und uns einen guten Rutsch und ein wundervolles neues Jahr 2023.

Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft?

Der Politikwissenschaftler und Journalist Hubert Wetzel schrieb am 5. Januar 2022:

»In jeder freien, demokratischen Gesellschaft gibt es Einzelne, die Freiheit und Demokratie verachten. Solange ihre Zahl überschaubar bleibt, sind sie ein beherrschbares Problem. Doch wenn diese Einzelnen zu einer Menge heranwachsen, wenn der Anteil derer eine nennenswerte Größe erreicht, die sich in Lügenlabyrinthen verirren, die grundlegende Regeln einer Demokratie ablehnen und Gewalt für ein probates Mittel halten, dann wird es gefährlich. Dann kann eine demokratische Gesellschaft kippen, weil eine radikale Minderheit, die fanatisch an etwas Falsches glaubt, mehr Wucht entfaltet als die stille Mehrheit, die einfach nur weiß, was das Richtige ist.«

Wohin entwickelt sich unser Buchmarkt?

Die Antwort des KlettCotta-Verlegers Tom Kraushaar am Vorabend der diesjährigen Frankfurter Buchmesse auf die bei Journalisten immer wieder beliebte Frage, ob das gedruckte Buch ein Auslaufmodell sei:

»Ich wohne in Stuttgart und habe im meinem privaten Umfeld eine Umfrage gemacht: Was ist wahrscheinlicher, dass es in 50 Jahren noch Autos gibt oder Bücher? – Ich habe bisher noch niemanden gefunden, der gesagt hat: Autos. Obwohl ich auch die Eltern der Mitschüler meiner Kinder gefragt habe, von denen einige bei Mercedes oder Porsche arbeiten. Es ist vollkommen ausgeschlossen, dass es in 50, 100 oder 200 Jahren keine gedruckten Bücher mehr gibt. Dafür sind die letzten 500 Jahre durch zu zahlreiche disruptive Medienwechsel geprägt worden, die allesamt mehr oder weniger spurlos am Buch vorbeigegangen sind. Vergleichen Sie nur mal ein Buch von 1612 mit einer schönen gebundenen Ausgabe von heute. Da hat sich nicht wirklich viel geändert an der Technologie Buch. Das liegt an der Überlegenheit dieser Erfindung. Deswegen glaube ich: Wir brauchen uns keine Sorgen machen.«

»Planung heißt, den Zufall durch Irrtum zu ersetzen. Wie das funktioniert, zeigt die Energiewende.«

Lukas Weber, 12. Januar

»Die Mehrheit der Ökonomen geht bis heute fälschlicherweise davon aus, dass der Mensch stets rationale Investitionsentscheidungen trifft und sich nicht von seinen Emotionen leiten lässt.«

Michael Ausfelder, 12. Januar

»Lustig ist es immer, wenn es Schnitzel gibt. Dann sind plötzlich nur noch ganz wenige der Gäste Vegetarier.«

Angie Sebrich, im Februar 

»Wer den Frieden nicht verteidigen will, macht den Krieg wahrscheinlicher.«

Timothy Garton Ash, 5. Februar

»Am 21. Februar 2022 hat sich Wladimir Putin aus der geordneten Welt verabschiedet.«

Anna Sauerbrey, 24. Februar

»Diese Studenten mit ihren von Benzindämpfen heiseren Stimmen, diese Kinder des Paradieses und der Hölle, sie sind kaum zwanzig Jahre alt. Sie haben eben noch Geschichte studiert. Jetzt machen sie sie.«

Bernard-Henri Lévy, 26. März

»Wenn die Kinder, die heute eingeschult werden, in Rente gehen, werden zwei menschliche Fähigkeiten zentral sein: Kreativität und Soziabilität.«

Bernd Thomsen, im März 

»Das PS-Bestiarium, das die deutsche Automobilindustrie derzeit im Angebot hat, ist kein Fall für den Führerschein. Sondern für den Waffenschein. Die Modellpolitik besteht aus Karikaturen der Mobilität.«

Gerhard Matzig, 4. April

»Ist es wirklich möglich, dass noch in diesem Jahrhundert ein Schwerverbrecher einen Mord an Menschen, Tieren, Städten und Landschaften verüben darf und ihm dies von der eigenen Bevölkerung als Friedensmission abgenommen wird? Es ist der totale Bankrott unserer Weltordnung.«

Michael Krüger, 24. April

»Du kannst einem Krieg entkommen. Aber nicht einer Vergangenheit, die in dir tobt.«

Selim Özdogan, im Mai

»Wir haben die Energie ausgelagert nach Russland, die Wachstumsmärkte nach China, die Sicherheit kommt aus den USA.«

Norbert Röttgen, 21. Mai

»Authentisch zu bleiben kann auf kurzer Strecke schon frustrieren. Da ziehen Leute an dir vorbei, die sich dem Markt anpassen. Aber auf lange Sicht kommst du, wenn du genug Substanz hast, dann doch hoch. Musik ist keine Kurzstrecke, das ist ein Marathonlauf.«

Wolfgang Niedecken, im Juni

»NFTs basieren auf der Idee, einen größeren Trottel zu finden.«

Bill Gates, 16. Juni

»Wenn ich jeden Konflikt von vornherein vermeiden will, lande ich im Überwachungsstaat.«

Albert Scherr, 7. Juli

»Dieser Krieg wird enden, wenn er von Russland nicht mehr militärisch gewonnen werden kann.«

Stefan Kornelius, 26. Juli

»Wir waren zu gute Jäger, um für immer Jäger zu bleiben.«

Nick Longrich, 12. August

»… die Frage, ob es überhaupt gelingt, Sachfragen als Sachfragen zu behandeln. Es scheint gerade eine Rückkehr des Prinzipiellen und Symbolischen zu geben, etwa bei der Frage nach der Angemessenheit der Maske, dem mildesten wirksamen Public Health-Mittel überhaupt. … Die Maske eignet sich deshalb als Symbol, weil man sie so gut sehen kann. Und der prinzipielle Kampf dagegen ähnelt einem kindlichen Verhalten, das meint, die Gefahr sei nicht mehr da, wenn man sie nicht mehr sieht.«

Armin Nassehi, 29. August

»Nur elf Prozent der Nachkriegsdeutschen waren mit Zahlungen an die Juden, die man ja gerade eben noch vollständig ausrotten wollte, einverstanden.«

Willi Winkler,17. September

»Nach Auschwitz kann man nicht mehr naiv sein. Aber die meisten sind gern naiv.«

Michel Friedman, 17. September

»Arme Gesellschaften gefährden die Umwelt, reiche Gesellschaften gefährden das Klima.«

Vince Ebert, 21. Oktober

»Wer wirklich Macht hat, braucht kein Machtwort.«

Kurt Kister, 21. Oktober

»Hoffen wir, dass der Damm der Erinnerung hoch genug gebaut ist, um der Sturmflut des Vergessens zu widerstehen.«

Charlotte Knobloch, 9. November

»Jimi Hendrix wollte nicht Ruhm, seine Ziele waren nicht Millionen von Followern, sondern eine neue Form von Musik.«

Patti Smith, 11. November

»Vielleicht, weil er ein kluges Kind gewesen war, hatte er von der Auffassungsgabe der Kinder stets eine hohe Meinung, von der Schule eher eine geringe. Das Kinderbuch Der Zahlenteufel (1997) war womöglich sein erfolgreichster Longseller.«

Lothar Müller über Hans Magnus Enzensberger, 26. November

»Gefühle sind keine Argumente. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheitsgruppe bedeutet nicht automatisch, dass man über ein Monopol auf die Wahrheit verfügt.« 

Meron Mendel, 2. Dezember

Ulrich Störiko-Blume betreibt seit 2015 in München die ProjektAgentur, die Konzepte und Manuskripte vor allem im Bereich Kinder- und Jugendliteratur an Verlage vermittelt. Zuvor hat er vier Jahrzehnte in leitenden Positionen bei verschiedenen Kinder- und Jugendbuchverlagen gearbeitet, zuletzt bei Hanser. Außerdem schreibt er gelegentlich für BuchMarkt und andere Fachpublikationen und ist Dozent beim Zentrum für Buchwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Kommentare (0)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert