»Widersprüche aushalten statt Aalglattismus« Marie Luise Knott hat den Essaypreis des Philosophicum Lech – Tractatus 2022 erhalten

Vom 21. bis 25. September fand unter dem Titel Der Hass. Anatomie eines elementaren Gefühls das 25. Philosophicum Lech mit ca. 400 Teilnehmern aus dem gesamten deutschen Sprachraum statt. Diese Tagung unter der wissenschaftlichen Leitung des Philosophen Konrad Paul Liessmann, deren Ergebnisse alljährlich bei Hanser veröffentlicht werden, versammelt Fachleute wie interessiertes Publikum und sorgt fünf Tage lang für engagiertes Nachdenken und kontroverse Debatten über brennende Fragen der Gegenwart.

Ein Höhepunkt ist die feierliche Verleihung des Essaypreises, der – angeregt von dem Schriftsteller Michael Köhlmeier – seit 2009 vergeben wird und mit 25.000 Euro zu den höchstdotierten auf diesem Felde gehört. Die Jury setzt sich zusammen aus der Schweizer Philosophin Barbara Bleisch (bekannt als Moderatorin der Sendung Sternstunde Philosophie im Radio und Fernsehen SRF), dem österreichischen Autor und Journalisten Thomas Vašek (Gründungschefredakteur der Philosophiezeitschrift Hohe Luft) und dem Schriftsteller und Essayisten Michael Krüger (ehemaliger Hanser-Verleger).

Der diesjährige Preis ging an die Berliner Autorin, Essayistin und Übersetzerin Marie Luise Knott für ihr Buch 370 Riverside Drive – 730 Riverside Drive. Hannah Arendt und Ralph Waldo Ellison, erschienen 2022 bei Matthes & Seitz Berlin. Hannah Arendt ist eine Denkerin, die in Überlegungen und Debatten zu großen Fragen wie Toleranz, Rassimus und Autoritarismus auch heute noch häufig und erkenntnisgewinnbringend zitiert wird. Ausgerechnet sie, die als Emigrantin aus NS-Deutschland in den USA Asyl gefunden hatte, soll zur Frage des dort nach wie vor grassierenden Rassismus gegenüber der eigenen schwarzen und farbigen Bevölkerung in ihrem Essay Little Rock „white ignorance“, also Gleichgültigkeit praktiziert haben? – fragt Barbara Bleisch in ihrer Laudatio. 

Marie Luise Knott bezieht ihre Überlegungen auf einen lange Zeit übersehenen Brief, den Hannah Arendt 1965, also Jahre später, an den schwarzen US-amerikanischen Schriftsteller Ralph Waldo Ellison geschrieben hat, indem sie einräumt, sich seinerzeit in ihrer Haltung zum Kampf um die Aufhebung der Rassensegregation in den Südstaaten geirrt zu haben. Daraus folgert Barbara Bleisch in ihrer Laudatio: „Wer Publikationen auf Zeitgemässes und Aalglattes zurechtstutzt … , vergibt sich die Chance, sich gerade in Auseinandersetzung mit anstössigen Ideen neue Blickwinkel zu eigen zu machen. … Die Leistung unserer Preisträgerin besteht nun nicht darin, wie es Philosophen manchmal durchaus gerne tun, eine ausgemachte Lücke in der Debatte zu stopfen, was dann meist bedeutet, eine Logelei mit sieben Kommastellen vorzulegen. Es ist vielmehr das bessere Argument, das der Philosophin das Geständnis abringt, sich rundweg geirrt zu haben – nicht die Angst davor, in der öffentlichen Meinung abzusinken. Denn was ist philosophisches Denken, wenn nicht, Widersprüche auszuhalten und dem Aalglattismus zu widerstehen?“ 

Und sie arbeitet heraus, dass Marie Luise Knott sich von dem Buch einen „Kollateral-Gewinn“ erwartete: „Sie hoffte, indem sie die Zeit und den Denkraum von damals neu untersuchte, ein Instrumentarium für heutige identitäre Debatten zu gewinnen.“

Marie Luise Knott sprach in ihrer raffinierten Dankesrede über sich in der dritten Person, wodurch sie eine weitere Ebene der Reflexion einführte, die ihre Überlegungen umso luzider machten: „Essays sind ein Wagnis, denn sie suchen nicht nach Aussagen, welche die Leserinnen und Leser getrost nach Hause tragen können. Essays gleichen vielmehr Erkundungsgängen – sprich, sie geben unserem ganzen nicht getrosten Dasein und dem nicht ganz bei Trost sein darin Raum. Und dass jemand solches Schreiben auszeichnete – dafür konnte man nicht laut genug danken. Egal wie man es drehte und wendete: Gerade in diesen meinungsstarken Zeiten ging es in ihren Augen darum, mehr Perplexitäten miteinander zu teilen. Mehr Antworten in Fragen aufzulösen. Mehr Fragen vor Antworten zu schützen, wenn man so will. Sie jedenfalls versuchte immer wieder, Gedanken im Gespräch mit sich selbst zu drehen und zu wenden und dabei die Leserinnen und Leser an den eigenen Denkbewegungen teilhaben zu lassen.“

Und so notierte sie sich für das Ende ihrer Dankesrede einen Satz von Thomas Brasch, den sie als junge Lektorin betreut hatte: „Ich danke den Verhältnissen für ihre Widersprüche“ und fügte hinzu: „… auch wenn diese einem immer wieder über den Kopf wachsen.“

Tagungsleiter Konrad Paul Liessmann stellt in seiner Eröffnungsrede zur Tagung die Frage „Wo verlaufen die Grenzen zwischen Kritik, Abneigung, Antipathie, Missbilligung und Hass?“ und folgert: „Den Hass zu neutralisieren, wird uns nur gelingen, wenn uns klar wird, wie tief wir in dieses Gefühl gerade dann verstrickt sind, wenn wir uns frei davon wähnen.“ Auch wenn uns der Hass als permanente Herausforderung immer begleiten wird, gehört zu unserer Konstitution als Menschen auch einer seiner wichtigsten Gegenpole: Mit „Alles wird gut – zur Dialektik der Hoffnung“ ist soeben das Tagungsthema für das nächste Philosophicum in Lech (19. bis 24.09.2023) bekanntgegeben worden.

Mehr dazu unter www.philosophicum.com

Ulrich Störiko-Blume

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