Gestorben Andreas W. Mytze

Carsten Pfeiffer erinnert an den „engagierten wie streitbaren Publizisten, Verleger, Theaterkritiker und Antiquar“ Andreas W. Mytze:
Andreas W. Mytze ((c) Stefan Appelius)

Der Germanist und Theaterwissenschaftler, der, lange in West-Berlin lebend, viele Jahre als freier Journalist für über ein Dutzend Zeitungen Theaterkritiken vornehmlich über Aufführungen an Theatern der damaligen DDR schrieb  (in Buchform erschienen im eigenen Verlag: Andreas W. Mytze,:Theater in der DDR. Kritiken 1972–1975. Berlin: Verlag europäische ideen 1976,) gründete 1973 die Zeitschrift europäische ideen – nach eigenen Angaben nicht zuletzt beeinflusst von der Gründung der KSZE – Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und der ersten KSZE-Konferenz in Helsinki 1973.

„Noch entscheidender“, so ist einem Stasi-Dossier über den Westberliner Publizisten Andreas Mytze vom 6. Mai 1977 zu entnehmen, „sei das Selbstverständnis der Zeitschrift als Fortsetzerin eines 3. Weges gewesen, wie ihn die ČSSR bis zum 21.8.1968 beschritten habe«.
Sein besonderes Engagement galt zum einen den Regimekritikern und Dissidenten in den Staaten des damaligen Ostblocks, insbesondere der DDR, denen die Zeitschrift  europäische ideen eines der wichtigsten Sprachrohre im Westen wurde. Er setzte sich u.a. für die Freilassung des Schriftstellers Jürgen Fuchs aus DDR-Haft ein, sowie für Wolf Biermann – und er rief in international beachteten Radiointerviews mit dem NDR, dem Deutschlandfunk und der BBC zur Solidarisierung mit beiden auf. Anfang 1976 zählte Andreas Mytze zu den letzten westlichen Journalisten, die Zugang zu Robert Havemann hatten und ihn besuchen konnten.
Mytze entwickelte eine außerordentlich hohe Kontaktaktivität, um Verbindungen zu Kulturschaffenden der DDR herzustellen und auszubauen, unterbreitete Angebote auf Mitarbeit mit Hinweisen darauf, dass bei Nachdrucken durch andere Presseorgane noch mit weiteren Honoraren zu rechnen sei.“, so das Stasi-Dossier weiter. Andreas  pflegte, wie er mir bei einem unserer letzten  Treffen 2019 erzählte, neben den bereits genannten, teils sehr langjährige Kontakte zu Reiner Kunze, Stefan Heym, Joachim Seyppel, Siegmar Faust, Peter Huchel, aber auch zu Anna Seghers, Wieland Herzfelde und vielen anderen,
Die Stasi urteilte in dem o.g. Dossier 1977:  „Die massive Einbeziehung derartiger antisozialistischer Kräfte (Anm.: Gemeint waren wohl Autoren wie  der „Renegat“ Ignazio Silone, wie Ernst Ottwalt, Wolf Biermann, Hans Habe, Reiner Kunze, Siegmar Faust, Jürgen Fuchs, Robert Havemann)) in die Gestaltung der »europäischen ideen« ist eindeutig auf eine ideologische Aufweichung und Zersetzung der sozialistischen Länder sowie progressiver Kreise in kapitalistischen Staaten ausgerichtet.“ – weshalb das seit 1976 bestehende Einreiseverbot in die DDR weiterhin Bestand haben müsse.
Im Jahr 1976 weitete Mytze seine publizistische Tätigkeit auf eine Buchproduktion aus – im Verlag europäische ideenerschienen u.a. Bücher von Augustin Souchy, Alfred Kantorowicz, Robert Havemann und Erich Mühsam. Ein besonderes Verdienst erwarb er sich mit der Wiederentdeckung des in der Weimarer Republik berühmten und von den Nazis verfolgten Schriftstellers und Brecht-Freundes Ernst Ottwalt (der war u.a. Mitautor des Drehbuches zum Film „Kuhle Wampe“),der, den Nazis durch Flucht  entkommen, nach einer Denunzierung im sowjetischen Exil 1943 in einem sibirischen Straflager elend verstarb. Mytze verlegte unter anderem Ottwalts Schriften, den Roman Ruhe und Ordnung und verfasste eine erste Ottwalt-Biographie unter dem Titel Ottwalt – Leben und Werk des vergessenen revolutionären deutschen Schriftstellers. Auch dieser Einsatz für das Stalin-Opfer Ottwalt wurde in der DDR („Verleumdung der UDSSR“, „antisozialistische Literatur“) höchst ablehnend verfolgt.
Zum anderen galt sein großes Interesse, seine Leidenschaft den von den Nationalsozialisten verfolgten SchriftstellerInnen und KünstlerInnen ,der deutschsprachigen Exil-Literatur und dem Programm des Malik-Verlages. Er pflegte Kontakte und/oder Freundschaften mit Erna Pinner, Erich Fried, Arno Reinfrank, Hans Sahl,  Fritz Erpenbeck, Albert Vigoleis Thelen, Walter Mehring und vielen mehr. Viele von Ihnen interviewte er und gab ihnen in seiner Zeitschrift eine Stimme. Sein dreiteiliger Exil-Katalog (1997, 1998, 2000) ist noch heute ein unabdingbares Nachschlagewerk zur Exil-Literatur.
Andreas W. Mytze hatte sein Herz am rechten Fleck, links wo das Herz ist, ohne parteipolitisch festgelegt zu sein. Er war ein unermüdlicher publizistischer Kämpfer für die Unterdrückten, Verfolgten, Vertriebenen, Vergessenen oder Zensierten des Dritten Reiches wie der DDR.
Seit vielen Jahren lebte Andreas W. Mytze in seiner Wahlheimat London. Dort ist er am 09. Juli aus dem Leben geschieden. Er wird fehlen.
In Unkenntnis eventueller testamentarischer Verfügungen: Es steht zu hoffen, nein, es muss gefordert werden, dass sich Institutionen wie z.B. das DLA in Marbach, die Staatsbibliothek in Berlin, das Deutsche Historische Museum oder das Bundesarchiv um seine Archiv bemühen und es für die Forschung retten.
Carsten Pfeiffer

Kommentare (0)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert