Prof. Dr. Christoph Bläsi forscht am Mainzer Institut für Buchwissenschaft. Im Rahmen des internationalen Buchmessen-Netzwerks Aldus Up arbeitet er an der Harmonisierung von europäischen Lesestudien, also daran, diese untereinander vergleichbar zu machen. In diesem Zusammenhang ist ein Arbeitspapier mit dem Titel Reading situations, cumulative effects of reading, and their consequences entstanden. Im Sonntagsgespräch von buchmarkt.de ordnet er die aktuelle Diskussion rund ums Thema Leseförderung aus wissenschaftlicher Perspektive ein.
Steht es tatsächlich so dramatisch um die Lesekompetenz oder greift unser Verständnis vom Lesen zu kurz?
In der IGLU-Lesestudie zur Lesefähigkeit von Viertklässlern liegt Deutschland im Schnitt der europäischen Länder. Nicht zuletzt als Bildungsnation ist unser Anspruch aber natürlich höher. Außerdem sprechen die Zeitreihen für eine Verschlechterung über die letzten Jahre. Die Relevanz von Lesekompetenz beginnt damit, dass man „partizipieren“ können sollte, also Straßenschilder lesen und am besten auch Parteiprogramme, um als Demokrat oder Demokratin z.B. begründet wählen zu können. Darüber hinaus dient das Lesen u.a. dazu, sich mit komplexeren Gedanken auseinanderzusetzen – und damit zum Beispiel auch Zugang zu höherer formaler Bildung zu bekommen. Wichtig ist anzumerken, dass es in den Lesestudien, die wir europaweit harmonisieren wollen, um solche geht, die das Lesen von Büchern in der Freizeit, also außerhalb von Ausbildung und Beruf, „messen“.
Wie steht Deutschland abseits des schulischen Lesens im internationalen Vergleich da?
Was die Beantwortung dieser wichtigen Frage angeht, sind wir bei einem zentralen Problem: In Deutschland gibt es außer Betrachtungen der Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen durch die Studien KIM und JIM und eben das internationale IGLU für Schüler am Ende der Primarstufe überhaupt keine regelmäßige Lesestudie! Das im Unterschied zu Ländern wie Spanien, Italien oder Norwegen, wo das seit Jahren geschieht. Das macht einen systematischen Vergleich mit anderen Ländern faktisch unmöglich. Es gibt aber ein paar Entwicklungen in anderen Ländern, die man mit dem vergleichen kann, was man aus gelegentlichen Studien etc. in Deutschland extrapolieren kann. Und da gibt es tendentiell durchaus Unterschiede. Zum Beispiel hat in Spanien das Lesen seit dem Ende des Franco-Regimes Mitte der 70er-Jahre in einem Maße auch bei jugendlichen Lesern zugenommen, wie wir das in Deutschland in der Zeit nicht kannten. Durch die Medienkonkurrenz ist dort allerdings jetzt auch ein Sattelpunkt erreicht. Und in Norwegen weiß man, dass Lesen ganz extrem von älteren Bevölkerungsschichten, auch jenseits der 70, getragen wird. Aber diese Unterschiede kann man mangels regelmäßiger deutscher Lesestudie nur mit gutem Grund vermuten, aber nicht belastbar feststellen.
In der Studie schlagen Sie vor, auch mit Hörbüchern verbrachte Zeit als Lesezeit zu sehen. Ist das angebracht?
In der Leseforschungs-Community ist man sich zunächst darüber einig, dass Hörbuchhören kein Lesen ist – es geht nicht um die Entnahme von Information aus visuellen Zeichen und die zugrundeliegenden neurologischen Vorgänge sind von daher völlig verschieden. Je nachdem, was ich aber als das Ziel einer Leseaktivität sehe, kann das Hörbuch aber natürlich durchaus den gleichen Beitrag leisten wie ein gelesenes Buch, wenn es zum Beispiel darum geht, die klassischen Texte einer Kultur kennenzulernen. Ein weiterer Grund, in solchen Studien Hörbuchzeit als Lesezeit zu sehen, ist die wichtige Perspektive von Verlagen und Buchmessen: Hörbücher machen einen zunehmenden Anteil ihres Umsatzes aus und sind an die gleichen Zielgruppen gerichtet wie ihre Bücher, konkurrieren also um deren Aufmerksamkeit.
Wie sollte gelungene Leseförderung aussehen?
Eine umfassende one size fits all-Lösungen wurde noch nicht gefunden – es kann sie aber auch nicht geben! Wenn es gelingen würde, Lesen als „coole“ Tätigkeit zu verankern, wäre man aber schon ´mal einen guten Schritt weiter … Das ist natürlich sehr abstraktes Wunschdenken, es scheint aber nicht unmöglich: Interessanterweise ist im Moment so etwas nämlich im Umfeld von TikTok und New Adult-Literatur punktuell zu erahnen. Ansonsten gibt es jede Menge Ansätze für verschiedene Zielgruppen und mit verschiedenen Zielen. Auch was den spezifischen Beitrag von Buchhandel und Verlagen angeht, sollten diese zunächst analytisch an das Thema herangehen: Es ist ein Unterschied, ob ich mich mit einem Angebot an Leute wende, die bisher selten oder nie lasen, oder ob ich Buch-affinen Zielgruppen Angebote machen möchte, mehr, Diverseres, Anspruchsvolleres, etc. zu lesen. Je nachdem gelange ich zu völlig unterschiedlichen Leseförderung-/Marketing-Maßnahmen. Mit einer Gießkanne Leseförderung zu betreiben, kann nicht gelingen – das ist auch eines der Ergebnisse unseres Arbeitspapiers.
Über welche Erkenntnis der Studie waren Sie besonders erstaunt?
Bei der Literaturschau über die zahlreichen Studien, die es dazu gibt, war das die Erkenntnis, wie gut Lesen offensichtlich empirisch nachweisbar tut. Und zwar z.B. im Bereich der Verbesserung von Kommunikationsgrundlagen, aber auch ganz stark im Bereich Wellness und Gesundheit: Lesen tut gut! Allein dieser Grund sollte doch wirklich genügen, um bei der Leseförderung Gas zu geben. Und dazu benötigen wir eben zuverlässige Zahlen, um zu schauen, wo man ansetzen sollte, sowie dann vor allem auch, um zu überprüfen, ob Maßnahmen erfolgreich waren, ob die Lage des Lesens entlang bestimmter Kenngrößen also nach einer Aktion anders, besser ist als zuvor.