Heute im Feuilleton der FAS:
„Gefängnis des Schweigens“: Ein Buch rüttelt Frankreich auf. Es legt offen, wie der hochdekorierte Jurist Olivier Duhamel seinen Stiefsohn jahrelang sexuell missbrauchte – und die gesamte altlinke Pariser Führungselite bereitwillig wegsah. Fast drei Jahrzehnte hat Camille Kouchner geschwiegen, doch jetzt hat sie mit ihrer Familiengeschichte Frankreich aufgewühlt. In ihrem Buch La familia grande (Seuil) geht es um den sexuellen Missbrauch an ihrem Zwillingsbruder, aber eigentlich geht es um viel mehr: um das moralische Versagen einer linken Pariser Führungselite, die jahrelang weggesehen hat. Das Wegsehen der anderen sei das Schlimmste gewesen, schreibt die 45 Jahre alte Französin. „Diese Stille ist nicht nur Feigheit gewesen. Einige waren entzückt darüber, schweigen zu dürfen. Man muss das Geheimnis teilen, um zum inneren Zirkel der großen Familie zu zählen.“
„Sympathie für den Teufel“: Patricia Highsmith hat den Kriminalroman zerlegt, manche Elemente davon weggeworfen, andere umgruppiert oder auf den Kopf gestellt und mit ihnen meistens das Gegenteil von dem gemacht, wozu sie da waren. Zum hundertsten Geburtstag einer schöpferischen Zerstörerin.Die erste der frühen Geschichten, die ihr Verlag zum hundertsten Geburtstag von Patricia Highsmith unter dem Titel „Ladies“ herausgebracht hat, handelt von einem schottischen Frauenkloster des 15. Jahrhunderts. Einem strengen, denn Männer kannten seine Insassinnen nur aus der Bibel. Nachdem das Kloster ein ausgesetztes Kind aufgenommen hatte, begannen die Schwierigkeiten./Patricia Highsmith: Ladies (Diogenes)
„Sich die Berge selbst bauen“: Georg Heinrichs wollte nach 1945 nach Tel Aviv auswandern. Der Architekt blieb dann doch in Berlin, wo er jetzt mit 94 Jahren starb. Sein Werk wird gerade neu entdeckt./Georg Heinrichs: Luxus für alle (Birkhäuser Verlag)
„Briefe in eine glückliche Zeit“: Zu Beginn der Proteste in Belarus fragte Swetlana Alexijewitsch die russische Intelligenzija: Warum schweigt ihr? Ihre Forderung richtete sich an eine Gemeinschaft, von der man aber nur träumen kann. Von Maria Stepanova, geboren 1972 in Moskau, ist Lyrikerin, Essayistin und Journalistin und Chefredakteurin der Internetzeitschrift „colta.ru“. 2020 erschien ihr Gedichtband Der Körper kehrt wieder (Suhrkamp).
„Eröffnet das Feuer gegen die Natur!“: Der Philosoph Yuk Hui entwickelt in seinem Buch über chinesisches und westliches Technikverständnis das Modell einer ökologischen Alternative. „Dabei stellt er seine Fragen jedoch mit aller gebotenen Vorsicht, und das nicht nur, weil sein Buch auch an die chinesische Philosophie und Gesellschaft adressiert ist. (Die Tatsache, dass das Buch in China nach der Rücknahme des zugesagten Druckes nicht erscheinen wird, deutet allerdings darauf hin, dass Huis Kritik doch zu deutlich war. Denn obwohl schwer zu entscheiden ist, ob es sich bloß um eine Verlagsentscheidung gegen den Druck handelt oder um ein unausgesprochenes Verbot, bleibt das Ergebnis: Das Buch wird es vorerst nur in der deutschen und englischen Version geben.“/Yuk Hui: Die Frage nach der Technik in China (Matthes & Seitz)