64 von
Hideo Yokoyama (original 2012:
64)
Persönlich gesprochen:
64 ist ein Kriminalroman, wie ich noch keinen gelesen habe. Alle Vergleiche hinken und landen zu kurz. (Törichte) amerikanische und britische Medien haben den aus Vermarktungsgründen lancierten Vergleich mit Stieg Larsson aufgegriffen, der hierzulande prompt weitergeschleppt wird.
Nichts, aber auch gar nichts an
Yokoyamas Epos erinnert auch nur im Fernsten an das Gestoppel des Schweden.
Hier ist nicht der Ort, diese durch und durch japanische, aber zugleich weltweit verständliche Geschichte mit ihren komplizierten Entwicklungen, mehrfachen Schichten von Verrat, Täuschung, Ehrerbietung, Solidarität und tiefer Enttäuschung aufzudröseln. Zwei Mädchen sind verschwunden: die siebzehnjährige Tochter des Protagonisten Yoshinobu Mikami und die siebenjährige Shoko. Erstere hat altersbedingt die Flucht aus der Familie ergriffen, vor allem aber, weil ihr Gesicht der verunstalteten „Fratze“ ihres Vaters ähnelt. Dies ist kein human-touch-Trick des Autors, sondern eine außerordentlich gelungene Setzung: Alle Aktivitäten ihres Vaters, dessen Loyalität sowieso zwischen allen Stühlen schwankt, sind mit der Patina der Scham versehen: Wie soll ein Mann sein Gesicht wahren, vor dem die Tochter geflohen ist?
Shoko ist in der ersten Woche des Jahres 1989, die zugleich die letzte der Regierungszeit Hirohitos war (daher
64 – so viele Jahre hat der Weltkriegskaiser gottgleich regiert), entführt und ermordet worden. 2002 droht die Verjährung, verschiedene Kräfte innerhalb der Polizei wollen dieses Datum zur Klärung innerbürokratischer Machtverhältnisse nutzen. Mikami, von der Mordabteilung abgestellt als Pressesprecher der Polizei, ist einer der wenigen, die immer noch ernsthaft Aufklärung und damit Versöhnung mit den trauernden Eltern erhoffen. Zwischen den sich bekriegenden Abteilungen Mord und Verwaltung muss er einen ganze eigenen Weg aus geheimer Recherche, Intrige, Diplomatie und Ermittlung finden. Und ist am Ende ein gereifter Mann.
Wenn es einen Nobelpreis für Kriminalliteratur gäbe:
Yokoyama hätte ihn verdient.Hideo
Yokoyama wurde 1957 in Tokio geboren und arbeitete bis zu seinem 34. Lebensjahr als Polizeireporter in der mitteljapanischen Präfektur Gunma.
64 wurde in Japan ein Millionenerfolg, wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. als bester japanischer Kriminalroman 2013, und wurde 2016 unter der Regie von Takahisa Zeze als
Rokuyon I und II verfilmt.
Zur Übersetzung: Kritische Stimmen haben moniert, dass
64 nicht aus dem japanischen Original übersetzt wurde. Der Originalverlag Bungeishunju hielt die englische Übersetzung von Jonathan Lloyd-Davies für so gelungen, dass sich weitere Übersetzungen an dieser qualitativ hochwertigen Arbeit orientieren sollten.Neuere Stimmen aus der Jury:„Der Rezensentin ist auf dem Krimimarkt nichts Vergleichbares bekannt, am ehesten könnte man die inhaltliche und formale Kühnheit von
64 vielleicht mit der der in den nuller Jahren entstandenen Fernsehserie „The Wire“ vergleichen.“ (
Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau)
Tobias Gohlis in der ZEIT vom 21. März:
Japanische Widersprüche