Hideo Yokoyamas "64" (Atrium) auf Platz 1 Hier die Krimibestenliste April 2018 zum Ausdrucken – und die Neueinsteiger in der Besprechung

An jedem ersten Sonntag des Monats geben 20 Literaturkritiker und  Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Die Krimibestenliste ist eine Kooperation der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit Deutschlandfunk Kultur. Hier finden Sie die komplette Liste zum Ausdrucken.

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An der Spitze der Krimibestenliste April 2018 finden Sie neu auf  Platz 1 (im März auf Platz 2):

 

 

64 von Hideo Yokoyama (original 2012: 64)

Persönlich gesprochen: 64 ist ein Kriminalroman, wie ich noch keinen gelesen habe. Alle Vergleiche hinken und landen zu kurz. (Törichte) amerikanische und britische Medien haben den aus Vermarktungsgründen lancierten Vergleich mit Stieg Larsson aufgegriffen, der hierzulande prompt weitergeschleppt wird.
Nichts, aber auch gar nichts an Yokoyamas Epos erinnert auch nur im Fernsten an das Gestoppel des Schweden.
Hier ist nicht der Ort, diese durch und durch japanische, aber zugleich weltweit verständliche Geschichte mit ihren komplizierten Entwicklungen, mehrfachen Schichten von Verrat, Täuschung, Ehrerbietung, Solidarität und tiefer Enttäuschung aufzudröseln. Zwei Mädchen sind verschwunden: die siebzehnjährige Tochter des Protagonisten Yoshinobu Mikami und die siebenjährige Shoko. Erstere hat altersbedingt die Flucht aus der Familie ergriffen, vor allem aber, weil ihr Gesicht der verunstalteten „Fratze“ ihres Vaters ähnelt. Dies ist kein human-touch-Trick des Autors, sondern eine außerordentlich gelungene Setzung: Alle Aktivitäten ihres Vaters, dessen Loyalität sowieso zwischen allen Stühlen schwankt, sind mit der Patina der Scham versehen: Wie soll ein Mann sein Gesicht wahren, vor dem die Tochter geflohen ist?
Shoko ist in der ersten Woche des Jahres 1989, die zugleich die letzte der Regierungszeit Hirohitos war (daher 64 – so viele Jahre hat der Weltkriegskaiser gottgleich regiert), entführt und ermordet worden. 2002 droht die Verjährung, verschiedene Kräfte innerhalb der Polizei wollen dieses Datum zur Klärung innerbürokratischer Machtverhältnisse nutzen. Mikami, von der Mordabteilung abgestellt als Pressesprecher der Polizei, ist einer der wenigen, die immer noch ernsthaft Aufklärung und damit Versöhnung mit den trauernden Eltern erhoffen. Zwischen den sich bekriegenden Abteilungen Mord und Verwaltung muss er einen ganze eigenen Weg aus geheimer Recherche, Intrige, Diplomatie und Ermittlung finden. Und ist am Ende ein gereifter Mann.
Wenn es einen Nobelpreis für Kriminalliteratur gäbe: Yokoyama hätte ihn verdient.Hideo Yokoyama wurde 1957 in Tokio geboren und arbeitete bis zu seinem 34. Lebensjahr als Polizeireporter in der mitteljapanischen Präfektur Gunma. 64 wurde in Japan ein Millionenerfolg, wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. als bester japanischer Kriminalroman 2013, und wurde 2016 unter der Regie von Takahisa Zeze als Rokuyon I und II verfilmt.
Zur Übersetzung: Kritische Stimmen haben moniert, dass 64 nicht aus dem japanischen Original übersetzt wurde. Der Originalverlag Bungeishunju hielt die englische Übersetzung von Jonathan Lloyd-Davies für so gelungen, dass sich weitere Übersetzungen an dieser qualitativ hochwertigen Arbeit orientieren sollten.Neuere Stimmen aus der Jury:„Der Rezensentin ist auf dem Krimimarkt nichts Vergleichbares bekannt, am ehesten könnte man die inhaltliche und formale Kühnheit von 64 vielleicht mit der der in den nuller Jahren entstandenen Fernsehserie „The Wire“ vergleichen.“ (Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau)

Tobias Gohlis
in der ZEIT vom 21. März: Japanische Widersprüche

Neu auf der Krimibestenliste März stehen fünf Titel.

Diesmal sind es je
1 italienischer,
1 irischer
1 australischer und
2 deutsche.

Mit zusammen 1476 Seiten.
3 männliche, 2 weibliche Autoren.

Neu sind:

Auf  Platz 5: ACAB. All Cops Are Bastards von Carlo Bonini (original 2009: ACAB. All Cops Are Bastards)
Dem deutschen Publikum ist der 1967 in Rom geborene Carlo Bonini bisher aus der Zusammenarbeit mit Giancarlo de Cataldo bekannt (2015: Suburra, 2016: Die Nacht von Rom). ACAB – nach einem Song der 4-Skins – ist sein erster eigenständiger Roman auf Deutsch. Grundlage ist eine Sammlung von Dokumenten und Zeugenaussagen, die der investigative Journalist Bonini von Polizisten und Hooligans gesammelt hat.
Diese Dokumente verknüpft er zu einem Roman, in dem die alle übertönende Leitstimme die der eskalierenden Gewalt ist. Polizisten aus dem „schwarzen Herz der Polizei“ kommen zur Sprache, denen die übernommene oder tradierte faschistische Ideologie im Blut- und Machtrausch nur noch als dünnes Mäntelchen dient. Einer von ihnen weiß nicht einmal mehr „was es hieß, rechts zu sein.“ Einige gehören der martialisch aufgerüsteten und aufgeputschten Spezialeinheit VII an, die nach den Massakern während des G8-Gipfels in Genau 2001 aufgelöst und vergessen wurde.
Wie in einem Doppelchor sind dazu die Stimmen von Ultras von Lazio Rom und von randalierenden Kriminellen, die für die Mafia Müllboykotts organisieren, arrangiert. Ähnlich wie Der Block von Jérôme Leroy (Krimibestenliste März bis Juni 2017) gibt Boninis ACAB verstörend Einblick in Szenerien, in diesem Fall sich verselbständiger Gewalt, die eine selbstzufriedene Schönwetterpolitik nicht wahrhaben will.

Marcus Müntefering
, der eigene üble Erfahrungen beim Hamburger G-20-Gipfel gemacht hat, resümiert: “Bonini erzählt von Hass, Angst, Verunsicherung, fehlender Orientierung. Man sollte ACAB auch als Warnung vor all denjenigen lesen, die heute einfache Lösungsansätze für komplexe Situationen versprechen.“ (Spiegel online)

 Auf  Platz 6: Kerkerkind von Katja Bohnet

Kerkerkind ist der zweite Roman um das entschieden nicht normgerechte Berliner LKA-Ermittlerduo Rosa Lopez und Viktor Saizew. Sie ist hochschwanger, er gerade von der OP eines lebensbedrohlichen Hirntumors genesen. Vernarbt wie der frische Frankenstein, durch seine Medikamente in Wutattacken getrieben, ist Saizew dennoch der richtige Mann, um die Zusammenhänge aufzudröseln, die hinter dem Mord an einer Türkin und ihrem ungeborenen Kind stecken.
Wie schon in ihrem Erstling Messertanz schert sich Bohnet nur um die Krimi-Konventionen, die ihr bei ihren abenteuerlichen Irrfahrten durch die bizarre Welt der Verbrechen als architektonische Stütze nützen. Zum Beispiel der Chef der beiden und den darüber thronenden Innensenator „Groß“, die beiläufig ihrer dramaturgisch gebotenen Aufgabe nachkommen, den Druck auf die beiden Helden ins Unerträgliche zu steigern. Ansonsten geht es um ganz andere Dinge: bizarren Hass, bizarre Strafen, bizarre Sühne, all das eingebunden in ganz normale Lebensverhältnisse. Zu denen dann wie selbstverständlich eine Künstlerin gehört, die in ihren Life-Performances Leichen köpft.
Katja Bohnet ist in doppelter Weise eine frische Stimme im Autorenorchester: Die Distanz zwischen ihrer wilden Schreibe und dem, was gemeinhin von Lektoraten/Verlagsdesignern als „Frauenspannung“ verlangt wird, entsprecht der zwischen der Erde und dem Sternbild Pegasus. Und, geschult an Tarantino und anderen Wilden, hat Bohnet ihren eigenen Way of Crime entdeckt: Alles, was man auf der dunklen Seite an Sex, Gewalt und Leidenschaft auftreiben kann, bringt sie mit ungebändigter Spiellust zum Tanzen. Walpurgisnacht statt Damenkränzchen. Deshalb ist eine der wichtigen Figuren in Kerkerkind auch aus Shakespeares Sommernachtstraum entnommen: Caliban.

Elmar Krekeler fand: Es geht „einem wie in jedem schönen Urwald – man fürchtet sich, man erschrickt und will erst mal nicht mehr raus.“ (Die WELT)

Auf  Platz 7: Tiefenscharf von Roland Spranger

Roland Spranger (*1963), Autor zahlreicher Theaterstücke und bisher dreier Kriminalromane, 2013 mit dem Glauserpreis ausgezeichnet, wird von Verleger Wolfgang Franßen im Vorwort zu Tiefenscharf als Galionsfigur des „deutschen Polar“ vorgestellt, den Franßen in seinem gleichnamigen Verlag fördern möchte.Wenn man unter „Polar“ nicht, wie die Franzosen einfach nur einen Krimi versteht, sondern etwas, das die „Sinne schärft“ (Franßen), dann geht Tiefenscharf in die richtige Richtung.
Es ist die recht einfache, aber gut gestrickte Geschichte um die Etablierung eines Crystal-Meth-Dealerrings an der fränkisch-tschechischen Grenze (wo auch Spranger selbst wohnt). Das, was diesen Roman interessant macht, ist erstens die gelungene Übertragung amerikanischer Gangsterszenerien in die deutsche Provinz (die hier überhaupt nicht regio-krimi-beschaulich daher kommt) und zweitens das zu dieser Grenzprovinz passende abgefuckte Milieu: Einerseits der kleine Videojournalist Sascha, der hofft, mit solider Recherche den großen Durchbruch erzielen zu können, andererseits das rechte und rechtsradikale Milieu um den Gangster Max Thoss. Ideologie, Haltung gar: Pustekuchen. Sehr gelungen die Paarung des kaltblütigen Killers Thoss mit der gelangweilten Möchtegern-Anarchistin und Amateurkünstlerin, die ganz zum Spaß Nobelkarossen abfackelt.

Auf  Platz 8: Eight Ball Boogie von Declan Burke (original 2003: Eight Ball Boogie)

Als Declan Burke 2003 mit Eight Ball Boogie debütierte, verfiel Ken Bruen, Senior Master der irischen Crime Fiction, in eine Art von Ekstase und verkündete „’I have seen the future of Irish crime fiction, and its name is Declan Burke.“
Der bescheidene Declan Burke hat sein bestes getan, diese Vision wahr werden zu lassen – und wer seinen Debütroman jetzt in der ebenso kunstvollen wie spielfreudigen Übersetzung seines Kollegen Robert Brack gelesen hat, kann die Verzückung nachvollziehen. Denn Declan Burke zieht, wie auch auf jeweils andere Weise in seinen folgenden Romanen (2014: Absolute Zero Cool, 2016: The Big O) alle Register der avancierten amerikanischen hard-boiled-Literatur.
Man kann Eight Ball Boogie doppelt lesen: als sehr spannende, sehr schnell geschriebene  PI-Novel, die mit dem kettenrauchenden, kaffeeschlürfenden Revolverjournalisten und Privatermittler Harry Rigby eine Art irischen Marlowe vorstellt oder als Versuch, alle chandleresken Topoi in einem literarischen Debüt zu toppen, zu feiern und ad acta zu legen.
Burke gelingt dieses Kunststück auf verblüffende Weise, ohne im geringsten zu langweilen. Im Gegenteil: Etwa der topischen femme fatale des klassischen Noir dichtet er in Gestalt der schwarzgekleideten Eisprinzessin bösartige neue Abartigkeiten an – weshalb sie auch ein besonders übles Ende erleiden muss. Herz, Schmerz, Untreue und Verrat kommen nicht zu kurz. Doch bei aller erwiesenen Kunstfertigkeit fehlt noch das kleine Etwas zum ganz großen Roman – aber Declan Burke ist im besten Alter, und Eight Ball Boogie  war ja tatsächlich nur der Anfang.

 

Auf  Platz 9: Seht, was ich getan habe von Sarah Schmidt (original 2017: See What I’ve Done)

“Lizzie Borden took an axe, and gave her mother 40 whacks. When she saw what she had done, she gave her father 41 …” Der Fall der Lizzie Borden, die 1892 angeklagt wurde, ihren Vater und ihre Siefmutter mit einer Axt erschlagen zu haben, hat es nicht nur ins Küchenlied, sondern auch in TV-Serien, Opern und etliche Kriminalromane bzw. -erzählungen gebracht.Wer will, dem gibt das Internet inklusive eines virtuellen Museums Auskunft über jedes Detail des Falles, der bis heute einer der großen Kriminalmythen Amerikas ist. Die 32-jährige Lizzie wurde angeklagt und wegen groben Verfahrensfehlern und vor allem deshalb freigesprochen, weil die Jury schlichtweg davon ausging, „dass Frauen ein derartiges Verbrechen nicht begehen würden“.
Sarah Schmidt, die im fernen Australien, wo sie wohnt, in einem Antquariat auf ein Heftchen über Lizzie stieß, interssiert sich in ihrem Roman nur am Rande für die forensischen Details. Ihr geht es um die inneren Familienzusammenhänge, die einen Doppelmord geradezu zwingend machten – zwei unverheiratete erwachsene Töchter von 32 und 43 Jahren unter der Fuchtel eines steinreichen, aber geizigen Patriarchen und seiner allzu passenden zweiten Ehefrau. Die macht Schmidt in den vier Ich-Erzählerstimmen deutlich. Unter der Tünche wohlanständiger neuenglischer Zivilisertheit brodelt und kocht es, überall liegt Erbrochenes herum, und es stinkt nach Schweiß.

Schmidt bringt die uralte Idee vom Miasma, aus dem das Böse hervorbrechen soll, zu neuer bedrängender Erfahrung. Die Debütantin verfügt noch nicht über alle Register, daher trägt sie manchmal zu dick auf. Aber sie hat Power!“ (Tobias Gohlis, Deutschlandfunk Kultur)
Seht, was ich getan habe ist ein tolles Debüt dieser jungen Autorin.“ (Jutta Günther, Radio Bremen Zwei)

 

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