Hier zum Download zum Ausdrucken Krimibestenliste Oktober: Garry Disher wieder auf Platz 1 und mit zwei Titeln vertreten

Die aktuelle Krimibestenliste von Tobias Gohlis in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit den zehn besten Krimis gibt es hier zum Ausdrucken.

An der Spitze der Krimibestenliste Oktober 2019 finden Sie neu auf Platz 1: Hitze von Garry Disher (original 2015: The Heat) (September Platz 8)
Die Figur des unverwüstlichen Verbrechers – gnadenlos gegen seine Feinde, präzise in Planung und Voraussicht, immer auf der Jagd nach dem großen Geld, das alle Planung und Voraussicht überflüssig machen wird, umlungert von Deppen, die ihn bewundern oder übertölpeln wollen – diese Figur war eigentlich schon aus der Zeit gefallen, als Donald E. Westlake unter dem Pseudonym Richard Stark 1962 Parker mit Payback auf die Piste schickte. In dem letzten, dem vierundzwanzigsten (!) Parker-Roman (Dirty Money von 2008) werden die Schwierigkeiten von Dieben erörtert, die wegen der beinahe kompletten Umstellung auf elektronische und Kartenzahlung nicht mehr an Bargeld kommen.
Umso erstaunlicher und kennzeichnend für einen Kontinent, der von Strafgefangenen erobert wurde und seinen höchsten Krimipreis nach einem Verbrecher (Ned Kelly, 1855 – 1880) benannt hat, ist die Karriere des Diebs Wyatt, den Garry Disher erstmals 1991 auf den Südosten Australiens losließ. Hier, im weniger reglementierten Kontinent, der zudem lange Zeit als terra incognita galt, hatte so jemand wie Wyatt  noch eine halbwegs reelle Chance – auch als Kontrastfigur zum Flugzeug- und Motorenschrauber und Beamten Hal Challis, einer anderen Serienfigur von Garry Disher.
Jetzt, pünktlich zu Dishers 70. Geburtstag am 15. August, ist auf Deutsch sein achter Wyatt-Roman erschienen: Hitze.
Wyatt ist zurück aus Frankreich, ohne Geld, aber mit der Genugtuung, „einen Mann getötet zu haben“. Jetzt braucht er einen neuen Job, und beinahe greift er auf die Idee eines Raubüberfalls zu, die ihm ein Kumpel offeriert. Doch die Knaben, die die Geschichte ausbaldowert haben, sind Wyatt zu unprofessionell, und er lehnt ab. Aber weil gerade ein Gangster niemals nur halb nein sagen darf, wird ihm der abgehängte Brutalo Jack Pepper später noch einmal in die Quere kommen. Da ist er längst aus dem lausigen Melbourne in die Ferienparadiese der Gold Coast in Queensland weitergezogen, um einen alten Jobvermittler zu treffen, der ihm Hunderttausend dafür anbietet, einen flämischen Meister zu klauen, der über Nazi-Umwege aus dem Besitz einer deutschen jüdischen Familie jetzt bei einem halbseidenen Neureichen – Australien wimmelt davon – gelandet ist, der sich zudem als Vergewaltiger kleiner Mädchen entpuppt. Alles gut? Die Auftraggeberin, eine wohlhabende Israeli aus den USA, wirkt seriös, auch wenn es die Umstände nicht scheinen. Wäre da nicht die ambitionierte Nichte des Jobvermittlers, die es satt hat, Botendienste für ihren Onkel zu leisten.
Dieser Wyatt-Roman gehört zum Alterswerk Dishers, das von neuer Leichtigkeit und Heiterkeit geprägt zu sein scheint. Jedenfalls ist Hitze weniger melancholisch gestimmt als der Vorgänger Dirty Old Town und endet vergleichsweise optimistisch mit einer Art ritt in den Sonnenuntergang. Was an der Ostküste ganz anders aussieht als an einer Westküste wie Kalifornien.

„Der Plot hat alles, was ein höchst unterhaltsamer Krimi braucht: Spannung, Action, Sex, Gefahr, Situationskomik, hinterhältige Figuren und Verräter. Disher hat aber noch viel mehr zu bieten.“ (Hanspeter Eggenberger, Zürcher Tages-Anzeiger)

Garry Dishers Kaltes Licht (vormals auf Platz 1) ist im Oktober auf Platz 4 gewechselt. Neu auf der Krimibestenliste Oktober stehen insgesamt vier Titel. Diesmal sind es je 2 englische, 1 amerikanischer und 1 japanischer mit zusammen 1396 Seiten. 4 männliche Autoren. Neu dabei sind:

Auf Platz 7: Der chinesische Verräter von Adam Brookes (original 2014: Night Heron)

1980 war Adam Brookes zum ersten mal in Peking, um Chinesisch zu studieren, später berichtete er viele Jahre lang für BBC von dort. Er überblickt also den Zeitraum zwischen dem Tiananmen-Massaker, in dessen Folge ein Protagonist seiner Debüt-Spy-Novel Der chinesische Verräter ins Arbeitslager kam, bis zum Jahre 2013, in dem der Roman spielt, und die Veränderungen, die sich in ihm vollzogen haben.
Peanut war der Deckname des Physikers und Ballistikspezialisten Li Huasheng beim britischen Auslandsgeheimdienst MI6. Nach zwanzig Jahren Haft gelingt ihm die Flucht aus dem Arbeitslager, er gelangt nach Peking und nimmt Kontakt dort auf, wo er zuletzt bestanden hatte, bei einem britischen Auslandskorrespondenten.
Dem BBC-Mann Adam Brookes ist Ähnliches widerfahren, davon berichtet er auf seiner Website.  Während Brookes auf das Angebot nicht reagierte, weil er in dem Angebot eine Falle witterte, traut sich sein Romanheld Philip Mangan, der noch in zwei weiteren Romanen auftreten wird. Widerwillig zwar, aber als freier und zudem wagemutiger Journalist stärker als ein angestellter auf Scoops angewiesen, greift Mangan zu und wird nolens volens zum Mittelsmann von Nachrichten, die im Erscheinungsjahr des Romans 2014 noch sensationell waren. Peanut reaktiviert sein altes Agentennetzwerk und schafft Baupläne der damals noch weitgehend unbekannten Interkontinentalrakete Dongfeng 41 herbei – die er allerdings nur dann herausrücken will, wenn das alte uneingelöste Versprechen des MI6 wahr gemacht wird, ihn mit neuer Identität aus China rauszuholen. Sein und Mangans Pech: Unter dem gelieferten Material befand sich auch ein Stick mit ultramoderner Spysoftware, die die Gier der Chefs des inzwischen in SIS umbenannten MI6 weckt. Sie und ihre millionenschweren Mitstreiter aus der privaten Security-Industry bringen die beiden Außenseiter in Lebensgefahr: Mangan und Peanut müssen ihre Kräfte bündeln, um aus China abzuhauen, unterstützt von zwei toughen Frauen, die im SIS ihre eigene, vernünftige Agenda fahren. Über persönliche Erfahrungen und die Lage in China, soweit er sie vor seinem Umzug nach Washington mitbekommen hat, informiert Brookes, dem der Wechsel in die Fiktion prima gelungen ist, in einigen älteren Artikeln auf seiner Homepage.
Das Thema willfähriger Handlangerdienste des SIS für die private Security-Industry war bereits 2013 Gegenstand in John le Carrés Empfindliche Wahrheit.

Sonja Hartl ist recht begeistert über diesen hoch aktuellen Abenteuer- und Spionageroman in Deutschlandfunk Kultur.

Auf Platz 8: Einsame Zeugin von William Boyle (original 2018: The Lonely Witnes

Obwohl William Boyle (*1978) schon seit einer Weile in Oxford, Mississippi, einem Hotspot der modernen Südstaatenliteratur, lebt, lassen ihn das heimatliche Brooklyn und dessen kleinbürgerlich verfallende Südspitze Gravesend nicht los. Sein mehrfach ausgezeichneter Debütroman trug den Stadtteil im Titel. Auch der Folgeroman Einsame Zeugin, der eine Nebenfigur des Erstlings im Zentrum hat, spielt in den mehrheitlich von italienischen Einwanderern bewohnten Gegend um die 86. Straße und die Pfarrkirche St. Mary Mother of Jesus. Diese Kirche und deren Gemeinde sind neuer Lebensmittelpunkt von Amy Falconetti. Sie hat ihr Leben als Bartenderin und Partygirl hinter sich und bringt jetzt alten gehbehinderten Damen die sonntägliche Kommunion ins Haus. Im Grunde trauert sie aber immer noch ihrer großen Liebe Alessandra nach, und als diese für ein Casting wieder nach New York kommt, trägt dies zu Amys Verwirrung bei. Doch nicht allein: Sie wurde Zeugin, wie ein etwas zweifelhafter junger Mann aus der Nachbarschaft niedergestochen wurde. Amy geht nicht zur Polizei, sondern nimmt die Tatwaffe an sich, ohne recht zu wissen, was sie damit anfangen soll.
Als sie mehr oder minder zufällig Bekanntschaft mit dem Mörder macht, geraten die Verhältnisse ins Taumeln. Und Amy muss alle Schläue zusammenraffen.
Auch dieser zweite Roman ist ganz nah an den Sorgen und Nöten der Bewohner von Gravesend geschrieben, so dicht wie George Pelecanos in seinen besten Zeiten über Washington D.C. schrieb, allerdings ohne dessen volksdidaktische Ambitionen. Selten wurde der Alltag kleiner Leute so spannend (na ja, in vielen Partien) dargestellt.

„Mit Einsame Zeugin bestätigt William Boyle seine Meisterschaft im Erzählen nur scheinbar kleiner, ziemlich düsterer Geschichten. Seine Figuren sind liebenswerte Loser, die er nie voyeuristisch oder gar denunzierend begleitet, sondern immer verständnisvoll und empathisch.“ (Hanspeter Eggenberger, Zürcher Tages-Anzeiger)

Auf Platz 9: Fiona – Das tiefste Grab von Harry Bingham (original 2017: The Deepest Grave)

Fiona Griffiths stellt klare Anforderungen an ihre Vorgesetzten: Sie haben ihr eine möglichst ausgefallene Leiche zu servieren, bevor sie sich vom Fall zurückziehen, um Fiona die Ermittlungen zu überlassen, die meist in die abwegigsten Gebiete von Wales und hinter die unheimlichsten Verschwörungen führen.
Zu Beginn ihres sechsten Falles ist Fiona tief gefrustet: 453 Tage zeigt ihr kleiner Bürokalender an, 453 Tage ohne Mord. Und dazu kommt, dass ihr Chef, DI Dennis Jackson, den sie sich gerade mühevoll herangezogen hat, sich bald nach dem neuesten Mord in einen Vorruhestandsurlaub verzieht, so dass sie sich an einen neuen Erbsenzähler gewöhnen muss. Zum Glück hat sie die neue Leiche, die viel verspricht: eine Eisenzeit-Spezialistin, die in der Nähe von Cardiff an einer Ringburg buddelte, liegt tot im Arbeitszimmer ihrer Wohnung, mit drei Speerspitzen, mindestens 1500 Jahre alt, in der Brust. Und ihr mit einem Schwert abgetrennter Kopf guckt von der Kommode auf einen lateinischen Text an der Wand, der sich als eine der wenigen historischen Quellen entpuppt, die über die mögliche historische Existenz von König Artus, den man in England und Wales „King Arthur“ nennt, Aufschluss gibt.
Wer Fiona, die detektivische Inselbegabung mit dem weitgehend überwundenen Cotard-Syndrom kennt – und das sollt eigentlich jeder Krimifan – weiß, dass damit noch gar nichts gesagt ist. Bizarre Anfänge sind sozusagen das Markenzeichen jedes kommerziellen Thrillers, aber auch der von Harry Bingham (*1967) so wunderbar filigran ausgetüftelten Fiona-Krimis, die einen nie dahin führen, wo man vermuten könnte.
In diesem Fall führt Fionas Gespür in die Szene der Artus-Forscher (mitsamt ihren Artus-Forschungen) und die Kunstfälscherszene. Beide Fanatiker sind – aus unterschiedlichen Perspektiven – an Relikten aus der Zeit von King Arthur, also dem 6. Jahrhundert, interessiert, und natürlich wäre die Auffindung von Artus‘ Zauberschwert Excalibur (walisisch: „Caledfwlch“) der Höhepunkt ihrer Entdeckungen, Mindestschätzwert 70 Mio.Das böte ein Setting von Dan-Brown-Format. Doch Bingham ist ein viel zu kluger Autor, um sich in diese Falle zu begeben. Lange hält er alle Fragen (hat Artus, hat Excalibur existiert?) raffiniert in der Schwebe.
Dazu kommt aber noch das gewagte I-Tüpfelchen: Mit der jungen Archäologin Katie führt Fiona gewissermaßen auf Artus‘ diversen Gräbern einen ganz persönlichen existenziellen Totentanz auf, der alle Reste von Albernheit aus dem Plot saugt.
Ich sage: Fiona 6 ist nicht ganz so stark wie Fiona 5 (Wo die Toten leben, Krimibestenliste Mai bis Juli 2019), aber ein Hammer von Buch, jedenfalls für Freunde intelligenter Unterhaltung. Mit Schwert-Test.

Auf Platz 10: 2 von Hideo Yokoyama (original 1998: Kage no kisetsu, englische Vorlage 2019: Prefecture D )

Hideo Yokoyamas 64 war ein Kracher: ein Monster von Kriminalroman voller forensischer und bürokratischer Verästelungen, in dem trotz allem Engagement der Beamten das japanische Beamtenwesen selbst Haupthindernis der Ermittlungen war.
2 liest sich wie die Auskoppelung zweier nicht ganz fertiger Songs aus der LP 64: Darin tauchte  der Verwaltungsfachmann Futawatari zwar ziemlich häufig auf, seine Rolle war jedoch auf Aktenbewegungen im Hintergrund beschränkt. In 2 verknüpft seine Figur zwei durch den Ort „Präfektur D“ verbundene Erzählungen. In beiden geht es um die Situation der Frau in Japan.
Im ersten Fall lehnt ein Held der Kripo es ab, wie geplant seinen Ruhestandsposten zu räumen. Was nur Futawatari herausbekommt: Der Kripoheld ist hinter dem Vergewaltiger seiner Tochter her, von dem es nicht eine einzige Spur gibt. Im zweiten Fall ist unerklärlicherweise eine junge Kriminaltechnikerin nicht zum Dienst erschienen. Hier unterstützt Futawatari als eine Art japanischer Weiser vom Berge die Ermittlungen der Dienstvorgesetzten der Frauenabteilung.
Emanzipationskämpfe im bürokratischen Männerdschungel. In beiden Fällen siegt die List.

Dauerchampions: Zum dritten Mal stehen Garry Disher mit Kaltes Licht, Max Annas mit Morduntersuchungskommission und Tawni O’Dell mit Wenn Engel brennen auf der Krimibestenliste.

Ich wünsche Ihnen wie immer viel Anregung und Vergnügen bei der Lektüre und würde mich freuen, wenn Sie unsere Bestenliste weiterempfehlen könnten. Abonnieren kann man diesen Newsletter hier

Die Krimibestenliste Oktober wird am Sonntag, den 6.10.2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gedruckt veröffentlicht, und ist online wiederzufinden unter www.faz.net/krimibestenliste
und www.deutschlandfunkkultur.de/krimibestenliste (ab Montag).
Unter diesen Webadressen finden Sie immer die aktuelle Krimibestenliste.

Am Freitag, dem 4. Oktober, gegen 8.20 Uhr  gab es wie immer einen Vorgeschmack auf die Krimibestenliste bei Deutschlandfunk Kultur.

 

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