KrimiBestenliste Krimibestenliste September: Garry Disher weiter auf Platz 1

Die aktuelle Krimibestenliste von Tobias Gohlis in Zusammenarbeit mit Deutschlandfunk Kultur und der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit den zehn besten Krimis gibt es hier zum Ausdrucken.

An der Spitze der Krimibestenliste September 2019 finden Sie weiter auf Platz 1:

Kaltes Licht von Garry Disher (original 2017: Under the Cold Bright Lights)
Garry Disher, 1949 in Burra, South Australia, geboren, war über Mitte Sechzig, als er Kaltes Licht schrieb.
Disher muss ein großartiger Jugendbuch-Autor sein, denn er wurde mehrfach für seine Jugend- und Schulbücher ausgezeichnet. Er ist aber auch ein großartiger Altersbuch-Autor, das zeigt Kaltes Licht.
Denn diesseits aller darin enthaltenen Krimikunst ist es vor allem ein Lobpreis des Alters. Alan Auhl hat Erfahrung, etwas Geld, ein großes Haus und Langeweile. Fünf Jahre als Pensionär haben ihm gereicht, jetzt ist er zurück bei den Cold Cases und lässt die Lästereien seiner jüngeren Kollegen über den „alten Sack“ an sich abtropfen. Er nimmt, was er kriegen kann, ohne mehr zu wollen, mit Humor. Den Gelegenheitssex mit seiner Exfrau, die in seiner „Chateau Auhl“ genannten Villa in Uninähe ein Stadtzimmer unterhält, kommentiert er: „Wenn ich gewusst hätte, dass es zum Cunnilingus kommt, dann hätte ich mich besser rasiert.“
Mit der gleichen Lässigkeit widmet er sich den diversen Fällen, die an ihn herangetragen werden. Studenten finden bei ihm günstig Wohnung  – es ist übrigens der einzige Roman Dishers, der in der Metropole Melbourne spielt, in deren ländlicher Nachbarschaft er wohnt – aber auch verschreckte Wesen wie Neve und Pia Fanning, die sich hier vor einem sadistischen Ehemann und despotischen Vater verkrochen haben und in der entspannten Mehrgenerationen-WG allmählich zu Kräften kommen.
Um diesen despotischen Vater, der seine kleine Tochter zwingt, ihn zu besuchen, dann aber lieber mit Freunden Pornos guckt, kümmert sich Auhl zuletzt. Da hat er schon den Arzt, der reihenweise seine Frauen umbringt, weil er an Medikamente kommt, mit denen er es leicht tun kann, seiner Art der Gerechtigkeit zugeführt. Es ist eine, die die Grenzen des Gesetzes kennt und mit ihnen umgehen kann.
Disher ist bekannt für zwei Serien: Eine handelt vom Berufsverbrecher Wyatt, die in Berlin bei Pulp Master verlegt wird – der achte Band Hitze erscheint dieser Tage. Die zweite Serie dreht sich um den skrupulösen Polizisten Hal Challis. Sie erscheint im Zürcher Unionsverlag.
Auhl agiert in Kaltes Licht lange so, als wäre er eine ältere Version von Hal Challis, bis die Kaltblütigkeit eines Wyatt zu Tage tritt. Weil bestimmte Dinge im klaren kalten Licht der Wahrheit nur auf eine Weise gelöst werden können.
Disher ist ein großer Erzähler. Das zeigt sich beim ersten, alle anderen zusammenhaltenden eiskalten Fall. Im Garten einer Kleinbürgerfamilie bedroht eine Schlange die Kinder. Sie flüchtet sich unter eine Betonplatte, die aufgebrochen werden muss, um die Schlange, die nicht getötet werden darf, fangen und unschädlich entfernen zu können. Im Versteck der Schlange findet man eine Leiche mit einer falschen Rolex am Arm.
Disher kann eine Schlange und eine Leiche unter einer Betonplatte verbergen und wieder hervorholen – und wenn die Geschichte zu Ende erzählt ist, hat man als Leser mehrere Leben hinter sich.

„Dass Krimis noch immer die besten Sonden sind, um etwas über den Zustand einer Gesellschaft zu erfahren, ergibt sich bei Disher ganz von selbst, aus der Genauigkeit, mit der er Figuren und Milieus schildert.“ (Peter Körte, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)

Meiner Begeisterung für diesen feinen Krimi, der wie ein Zen-Garten zugleich rätselhaft und klar ist, habe ich in zwei Minuten und 40 Sekunden Deutschlandfunk Kultur zum Ausdruck gebracht.

Neu auf der Krimibestenliste September stehen insgesamt vier Titel. Diesmal sind es je 1 schottischer, 1 israelischer, 1 deutscher, 1 australischer. Mit zusammen 1254 Seiten. 1 weibliche, 3 männliche Autoren.

Neu dabei sind:

Auf Platz 3: Klare Sache von Denise Mina (original 2019: Conviction)

Infolge einer dornenreichen deutschen Veröffentlichungsgeschichte ist die 1966 in Glasgow geboren Denise Mina weniger bekannt, als es ihrem literarischen Rang entspricht. Drei Serien – um die ehemalige Psychiatriepatientin und Therapeutin Maureen O’Donnell, um die proletarische Journalistin Paddy Meehan, um die Detective-Inspector Alex Morrow (zuletzt Krimibestenliste Juni/Juli/August 2018: Blut.Salz.Wasser)
Klare Sache fällt ebenfalls aus Minas Serien-Schema, spinnt jedoch in einem Erzählstrang eine eigene Serienerzählung fort: In einem True-Crime-Podcast über den Untergang der Luxusyacht Dana erfährt die Glasgower Anwaltsgattin Anna McDonald, dass ein alter Bekannter, Leon Parker, mit zweien seiner Kinder vor der Île de Ré ertrunken ist. Zuvor hatte Parker die Milliardärin Gretchen Teigler geheiratet, die wiederum eine wichtige böse Rolle in Annas Vergangenheit gespielt hat. Denn bevor Anna Anwaltsgattin und bürgerliche Mutter zweier bürgerlicher Töchter wurde, hieß sie Sophie Burkaran.
Warum sie ihren Namen und ihre Identität wechseln musste, ist eines der Rätsel, die am Ende dieser verwickelten Geschichte aufgelöst werden. Zunächst aber sitzt Anna in der Patsche: Ihr Mann hat sich unter Mitnahme seiner Geliebten Estelle und von Annas Töchtern trennungshalber verdünnisiert. Ihr sind nur eine Abschlagszahlung, die Familienlimousine und Fin Cohen, der abservierte Ehemann der Geliebten, geblieben. Fin ist magersüchtig, ein Popstar auf der Suche nach neuer Anerkennung, und daher auf Annas Geschichte erpicht. Alles was sie auf der Suche nach der Dämonin Gretchen Teigler erleben werden, setzt er in einen eigenen Podcast um, wenn er nicht gerade vor Schwäche zusammenklappt.
Die wilde, verwickelte Geschichte ist voller Lust an Glamour auf mehreren Fiktionsebenen geschrieben und vertieft die Weisheit, die Frauen-Zeitschriften immer schon – wenn auch weniger kunstvoll – verbreitet haben: dass die Gier der Ultrareichen nach Liebe und Geld noch weniger stillbar ist als die der Armen.

Sonja Hartl begeistert in Deutschlandfunk Kultur: „Klug bindet die schottische Autorin in diesem rasanten Krimi allerhand gegenwärtige Themen ein: Die Faszination für True-Crime-Podcasts verbindet sie mit einer differenzierten Medienkritik und verweist auf die zwei Seiten von Öffentlichkeit und sozialen Medien, die sowohl Hort der Solidarität als auch Plattform für Hetzjagden sein können. Sie kritisiert den Umgang mit Opfern sexueller Gewalt, macht aber ebenso deutlich, dass sich durch #Metoo etwas geändert haben könnte.“

Auf Platz 5: Drei von Dror Mishani (original 2018: Shalosh)

Perspektivenwechsel bei Mishani: nach drei Kriminalromanen um und mit Avi Avraham aus Cholon jetzt ein Roman aus der Sicht dreier Frauen aus Tel Aviv: Drei.
Ein Buchhändler sagte neulich, es sei fast unmöglich, über diesen Roman zu reden, ohne zu spoilern. Tatsächlich könnte schon die Platzierung auf einer Krimi-Bestenliste eine Art von Spoiler sein. Denn bis zur ersten Leiche dauert es recht lange – allerdings folgen dann recht schnell andere: Die zweite Frau des Romans, die lettische Krankenpflegerin Emilia, verliert ihren geliebten Job und die geschätzte Familie samt freundlichem Familienanschluss, als der alte Herr, den sie liebevoll betreut hat, eines natürlichen Todes stirbt. Sie braucht eine neue Pflegestelle, weil daran ihr beschränktes Aufenthaltsvisum geknüpft ist. Und schon wieder müsste man spoilern, denn die Art und Weise, wie diese Familie mit der Geschichte der beiden anderen Frauen verknüpft ist, würde schon zu viel verraten.
Es sind drei Frauen, mit ihren je spezifischen Bedürfnissen, aus verschiedenen sozialen Lagen und Bedingungen, die über den Zeitraum von etwa vier Jahren auf unterschiedliche Weise in Kontakt zu dem Anwalt Gil Chamtzani treten.
Mit Dror Mishanis bisherigen Romanen ist Drei über die Figur der Leitenden Kriminalbeamtin Ilana Liss verknüpft, schon krebskrank, aber noch imstande, die Zügel in der Hand zu halten. Mishani-Leser kennen sie als gefürchtete und verehrte Mentorin des etwas weltfremden Avi Avraham. (Der übrigens als junger eifriger Polizist „A.“ auch kurz vorbeischneit.)
Interessant für die Wahrnehmung von Drei im literarischen Feld sind die Reaktionen.
In Israel wurde Drei zum Bestseller. Allerdings war es nicht möglich, englische Übersetzungen der Rezensionen zu bekommen, und so bleibt dieser Erfolg in einem Land, dessen literarische Eliten laut Mishani traditionell eher krimifeindlich sind, vorerst rätselhaft. Eine optimistische Interpretation wäre, dass die tonangebenden Kräfte endlich verstanden hätten, wie gut Kriminalliteratur sein kann.
Was aber tonangebenden Kräften in Deutschland wiederum gar nicht gefällt: Der FAZ-Kritiker Oliver Jungen lobt zwar Drei als Gesellschaftsroman einer Mittelschicht im Stau als „authentisch“, subtil und gelungen, findet aber den Krimiplot aufgesetzt.
Umgekehrt wird ein Schuh draus: die Intensität der Gesellschaftsschilderung erklärt sich aus dem nur scheinbar überraschenden Ende als Kriminalroman. Wie der Deckel den Dampf im Topf hält die erst langsam sich herausschälende Konstruktion des Kriminalromans die ganze oft leise Handlung unter Druck. Und dem Autor muss rechtgegeben werden, wenn er sagt, die im Roman dargestellte Grausamkeit sei es, was den Roman besonders israelisch macht. Nachzutragen wäre aus meiner Sicht: Es handelt sich um eine besonders verdruckste Grausamkeit, die in diesem Kriminalroman durch eine besonders engagierte Kriminalistin ans Licht gebracht wird, auch wenn man die Grausamkeit nicht vollständig begreift. Das ist der heiße Kern von Kriminalliteratur: Das Unbegreifliche des Verbrechens darzustellen.

„Orna findet den ebenfalls geschiedenen Gil zwar nicht rasend attraktiv, aber er ist ein Mann, der alles richtig macht: Er drängt sich nicht auf, er bleibt freundlich und entspannt, auch wenn Orna sich abrupt wieder zurückzieht, er ist aufmerksam, verständnisvoll, ein guter Zuhörer. Er versucht nicht, sie durch irgendwas zu beeindrucken, im Gegenteil, ‚es war, als bemühte er sich, unspektakulär zu klingen‘. Und übrigens klingt auch Mishani unspektakulär und packt einen nur umso mehr.“ (Sylvia Staude, FR, über die Beziehung der ersten Frau zu Gil)

Auf  Platz 6: Der die Träume hört von Selim Özdogan

Dass sich der 1971 in Köln geborene Autor Selim Özdogan mit Rap, mit Drogen und dem Internet auskennt, vor allem aber mit den Mythen, Erzählungen und Erfahrungen der türkischen Einwanderer mehrerer Generationen, macht dieses Buch zu einem höchst gelungenen Kriminalroman.
Es geht, so der mit Filmemacher Fatih Akin zusammenarbeitende Autor, um den Preis des sozialen Aufstiegs oder um das, was man zu zahlen hat, wenn man ihn um jeden Preis will.
Nizar Benali, Cyber-Detektiv, will das nicht, sondern er will sauber bleiben. Wie schwer das ist, und dass das selbst äußerst unsauber verlaufen kann (da gibt es Parallelen und vor allem Widersprüche zu George Pelecanos‘ Prisoners), ist der Kern der Geschichte um einen Vater, dem ein beinahe schon missratener Sohn zugeschoben wurde, und der nun sehen muss, wie er mit Anstand aus dem Mist rauskommt, den der gebaut hat. Oder, wie Nizar von seiner Ziehmutter Sevgi gelernt hat, wie man seinem Sohn „Rücken gibt“
Hier ein Podcast des Autors über die Entstehungsgeschichte von Der die Träume hört.

„Selim Özdogan pflegt einen eigenen, unaufgeregten, fein nuancierten und glaubwürdig mit Jugendsprache arbeitenden Ton. Man hört Nazir aufmerksam zu, auch wenn er gar nichts Spektakuläres zu erzählen, keineswegs von actiongeladenen Einsätzen zu berichten hat.“ (Sylvia Staude, FR)

Und hier die Rezension von Thekla Dannenberg.

Auf Platz 8: Hitze von Garry Disher (original 2015: The Heat)

Die Figur des unverwüstlichen Verbrechers – gnadenlos gegen seine Feinde, präzise in Planung und Voraussicht, immer auf der Jagd nach dem großen Geld, das alle Planung und Voraussicht überflüssig machen wird, umlungert von Deppen, die ihn bewundern oder übertölpeln wollen – diese Figur war schon aus der Zeit gefallen, als Donald E. Westlake unter dem Pseudonym Richard Stark 1962 seinen Verbrecher Parker mit Payback auf die Piste schickte. In dem letzten, dem vierundzwanzigsten (!) Parker-Roman (Dirty Money von 2008) werden – logisch – die Schwierigkeiten von Dieben erörtert, die wegen der beinahe kompletten Umstellung auf elektronische und Kartenzahlung nicht mehr an Bargeld kommen.
Umso erstaunlicher und kennzeichnend für einen Kontinent, der von Strafgefangenen erobert wurde und seinen höchsten Krimipreis nach einem Verbrecher (Ned Kelly, 1855 – 1880) benannt hat, ist die Karriere des Diebs Wyatt, den Garry Disher 1991 erstmals auf den Südosten Australiens losließ. Hier, im etwas weniger reglementierten Kontinent, der lange Zeit als terra incognita galt, hatte so jemand wie Wyatt  noch eine halbwegs reelle Chance – auch als Kontrastfigur zum Flugzeug- und Motorenschrauber und Beamten Hal Challis.
Jetzt, pünktlich zu Dishers 70. Geburtstag am 15. August, ist auf Deutsch sein achter Wyatt-Roman erschienen: Hitze.
Wyatt ist zurück aus Frankreich, ohne Geld, aber mit der Genugtuung, „einen Mann getötet zu haben“. Jetzt braucht er einen neuen Job, und beinahe greift er auf die Idee eines Raubüberfalls zu, die ihm ein Kumpel offeriert. Doch die Knaben, die die Geschichte ausbaldowert haben, sind Wyatt zu unprofessionell, und er lehnt ab. Aber weil gerade ein Gangster niemals nur halb nein sagen darf, wird ihm der abgehängte Brutalo Jack Pepper später noch einmal in die Quere kommen. Da ist er längst aus dem lausigen Melbourne in die Ferienparadiese der Gold Coast in Queensland weitergezogen, um einen alten Jobvermittler zu treffen, der ihm Hunderttausend dafür anbietet, einen flämischen Meister zu klauen, der über Nazi-Umwege aus dem Besitz einer deutschen jüdischen Familie jetzt bei einem halbseidenen Neureichen – Australien wimmelt davon – gelandet ist, der sich zudem als Vergewaltiger kleiner Mädchen entpuppt. Alles gut? Die Auftraggeberin, eine wohlhabende Israeli aus den USA, wirkt seriös, auch wenn es die Umstände nicht scheinen. Wäre da nicht die ambitionierte Nichte des Jobvermittlers, die es satt hat, Botendienste für ihren Onkel zu leisten.

Dieser Wyatt-Roman gehört zum Alterswerk Dishers, das von neuer Leichtigkeit und Heiterkeit geprägt zu sein scheint. Jedenfalls ist Hitze weniger melancholisch gestimmt als der Vorgänger Dirty Old Town und endet vergleichsweise optimistisch mit einer Art Ritt in den Sonnenuntergang. Was an der Ostküste ganz anders aussieht als an einer Westküste wie Kalifornien.

Das Cover wie immer ein Originalgemälde des Hamburger Malers 4000.

Unsere Dauerchampions: Zum dritten Mal steht Friedrich Ani mit All die unbewohnten Zimmer auf der Krimibestenliste.

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Die Krimibestenliste September wurde am Sonntag, den 1.9.2019 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gedruckt veröffentlicht, und ist online wiederzufinden unter www.faz.net/krimibestenliste
und www.deutschlandfunkkultur.de/krimibestenliste (ab Montag).
Unter diesen Webadressen finden Sie immer die aktuelle Krimibestenliste.

Am Freitag, dem 30. August, gegen 8.20 Uhr gab es wie immer einen Vorgeschmack auf die Krimibestenliste bei Deutschlandfunk Kultur.

Die Krimibestenliste finden Sie als Download unter
Krimibestenliste September

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