Gerhard Beckmanns Meinung – Das Ende einer amerikanischen Traditionsbuchhandlung und die Philippika eines Sortimenters, der nun seinen Job verliert, gegen die Gesamtentwicklung der heutigen Buchbranche verdient hohe Aufmerksamkeit

Über den Niedergang der guten Aprilscherze trauerte am 31. März das berühmte „Streiflicht“ der Süddeutschen Zeitung. Einen der übelsten Scherze des 1. April hat es heute in den USA gegeben – mit Signalwirkung für unsere Branche weltweit.

Heute beginnt der Räumungsverkauf des Avenue Victor Hugo Bookshop an der bekannten Einkaufsstrasse Newbury Street in Boston – eines der urbanen Glanzlichter der Stadt, wie schon 1996 das Boston Magazine befand; „ein wahres Juwel“, urteilte ein Buchliebhaber; laut eine allgemeinen Konsumentenbefragung für 2003 das zweitbeste Geschäft in Boston überhaupt; eine in der Region wie amerikaweit bekannte „perfekte Buchhandlung“ in bester Geschäftslage. Sie schließt nach 29 Jahren des Bestehens im Mai – ein weiteres Kapitel in der Leidens- und Sterbegeschichte des unabhängigen Buchhandels in den USA.

Aktuelle Hauptursache für das Ende: ein horrender Anstieg der Mieten in Verbindung mit der seit 1996 Jahr um Jahr deftig erhöhten städtischen Besteuerung von geschäftlich genutzten Immobilien.

Der Avenue Victor Hugo Bookshop braucht verhältnismäßig viel Platz. Er ist nämlich eine Antiquariats- und Gebrauchtbuchhandlung mit rund 150.000 Titeln und 250.000 Exemplaren alter Zeitschriftennummer seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Solche Buchhandlungen müssen ein großes Lager führen, haben jedoch eine erheblich niedrigere durchschnittliche Umschlagsgeschwindigkeit – statt der zwei oder drei Monate für Novitäten bis zu zwei Jahren. Die Bemühungen um entsprechende neue, erschwingliche Räumlichkeiten sind vergeblich gewesen.

Ein wesentlicher Grund des Problems war für den Eigentümer Vincent McCaffrey freilich ein Wandel des Kundenverhaltens. Der frühere Strom von Besuchern und Touristen vom Umland, die im Avenue Victor Hugo Bookshop von der Fülle des Angebots fasziniert waren, versiegt – wegen zunehmend weniger Parkplätze und einer immer rigoroseren Jagd auf Parksünder, die mit laufend höheren Geldbussen belegt werden.

Im übrigen begann 1999 ein merklicher Umsatzschwund; seit das Internet in Amerika sich auch bei alten und gebrauchten Büchern zu etablieren begann. Und gerade bei Studenten – die ein Grossteil der Kundschaft vom AVHB ausmachen (Boston liegt in unmittelbarer Nähe der Universität Harvard und des Massachussets Institute of Technology MIT) – ist wegen der exorbitant gestiegenen Preise für Lehrbücher (stark bedingt durch die Verlagskonzentration auf einige wenige Großproduzenten) zwar der Bedarf an älteren Titeln zwar gewachsen, doch auch das Suchen nach dem preisgünstigsten Exemplar, die von Internet-Anbietern befriedigt wird, welche, was einer stationären Buchhandlung nicht immer möglich ist, zudem den Bedarf an einer ganzen Reihe von Werken sozusagen schlagartig mit einer Lieferung decken können. Vincent McCaffrey hat seit 2000 nach eigenen Angaben ein ganzes Drittel seines Umsatzes verloren.

Die Nachricht von der Schließung hat bis in Publishers Weekly und zu einem kalifornischen Autorenverband ein weites Echo gefunden. Selber schuld, sagen einige wenige Stimmen, Vincent McCaffrey habe auf ein den modernen Zeiten gemäßes Geschäftsmodell umstellen müssen. Aber wie denn? Die Möglichkeiten des Internet hat er selbst natürlich auch voll genutzt. Er war alles andere als verschlafen.

Generell hört man Wehklagen. John Usher, ein Sortimenter des AVHB, der nun seinen Job verliert, hat der allgemeinen Stimmung Ausdruck verliehen, indem er für das Sterben der kleinen und unabhängigen Sortimente 12 Ursachen und Schuldzuweisungen anführt.

Davon wird manches – wie ich meine, zu Recht – Kopfschütteln auslösen. Etwa wenn er das Gros der Buchkäufer beschimpft, mit ihrem „convenience“-Shopping und ihren Vorlieben den „Massenmarkt für das Billige, Laute, Blendende“ geschaffen zu haben oder die Autoren rügt, „die Leser zu langweilen, so dass sie fernsehen“. Ähnlich scharf – da wird es manchmal schon sehr bedenkenswert, greift John Usher Lektoren, Rezensenten, Bibliothekare und Lehrer an. Und er geißelt – liegt er hier daneben? – die Gesetzgeber und Regierungen auf allen Ebenen, die – im Buchverkaufsbereich – das Wachstumsgeschäft der Grossunternehmen ermöglichen, den ortsgebundenen Mittelstand aber mit Auflagen und Restriktionen lahm legen.

Hat John Usher Recht, wenn für die negative Entwicklung “ zum Ende des Buches hin“ Buchhändlern die Schuld gibt, die eine „künstliche Nachfrage bedienen, welche von den Marketingabteilungen zum Erreichen kurzfristiger Gewinne erzeugt wird; die eine zweitklassige Behandlung durch die Verlage hinnehmen; die aktuell „heiße Luft“ pushen statt das langfristige Interesse der Leser zu entwickeln; und die es versäumen, inhaltliche und herstellerische Buchqualität zu fördern und zu unterstützen“?

Es ist meines Wissens der vehementeste kritische Rundumschlag eines gestandenen traditionellen Sortimenters gegen die Gesamtentwicklung der Buchbranche und den Trend der Zeit. Darum sollte sie allgemein Beachtung finden. Der volle Wortlaut ist nachzulesen auf der Website http://www.avenuevictorhugobooks.com/home.php3

Gerhard Beckmann sagt hier regelmäßig seine Meinung … und freut sich über Antworten an GHA-Beckmann@t-online.de. Natürlich können Sie diese Kolumne auch im BuchMarkt-Forum diskutieren. Einfach oben auf der Seite den Button „Forum“ anklicken, einloggen und los geht‘s.

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