Das Sonntagsgespräch Michael Krüger: „An der Situation der Poesie hat sich nichts geändert: Sie ist miserabel und muss mit Stipendien und Preisen am Leben gehalten werden“

30 Jahre lang war der deutsche Literaturbetrieb ohne Michael Krüger nicht denkbar. Jetzt scheint es still geworden um den langjährigen Hanser Verleger.  Er ist seit zwei Jahren wegen Leukämie in Quarantäne. Aber in dieser Zeit hat sichtlich unaufhörlich gearbeitet. Wir haben bei ihm nachgefragt:
Michael Krüger: „Weil ich wegen einer Leukämie besonders aufpassen muss, dass ich mich nicht anstecke, leben meine Frau und ich seit zwei  Jahren hier in einem Holzhaus in der Nähe von Allmannshausen“

Wie verläuft so ein Tag in Quarantäne? 

Michael Krüger: Ich arbeite. Weil ich wegen einer Leukämie besonders aufpassen muss, dass ich mich nicht anstecke, leben meine Frau und ich seit zwei  Jahren hier in einem Holzhaus in der Nähe von Allmannshausen hoch über dem Starnberger See. Zugang hatte nur der Arzt und der Postbeamte, an warmen Nachmittagen durften auch Freunde auf der anderen Seite des Tisches sitzen – der Tisch ist nicht so lang wie der von Putin, aber lang genug.
Und woran haben Sie gearbeitet?
Zunächst an dem Band Im Wald, im Holzhaus, der im Vorjahr bei Suhrkamp erschienen ist, eine Art lyrische Bestandsaufnahme der existentiellen Situation der Quarantäne.
Was mich nach vielen Jahren erstmals wieder dazu gebracht hat,  Gedichte zu lesen.
Ausserdem habe ich die Erzählung Was in den zwei Wochen nach der Rückkehr aus Paris passiert ist geschrieben, die ebenfalls bei Suhrkamp erschienen ist.
Beim Blättern in den Vorschauen sehe ich aber noch viel mehr Output von Ihnen.
Ja, auch der Band Meteorologie des Herzens, der bei Berenberg erschienen ist, hat mir Freude bereitet, weil ich zwischen zwei Buchdeckeln meinen Grossvater und den polnischen Dichter Zbigniew Herbert unterbringen konnte, mit dem ich lange befreundet war.
Und dann haben Sie noch bei Wallstein das umfangreiche Buch Der Petrarca-Preis mit  herausgegeben…
… bei  dem ich die Geschichte dieses aussergewöhnlichen Literaturpreises erzählt und zum zum grössten Teil selber geschrieben habe. Aber um meine Liste vollständig zu machen möchte ich in aller Bescheidenheit auch das erwähnen: Zu dem Roman Dissipatio humani generis von Guido Morselli, dem Roman des letzten Menschen auf Erden, der in der Bibliothek Suhrkamp neu herausgekommen ist, haben ich ein Nachwort geschrieben und auch bei Wallstein noch einen  Band mit Essays meines verstorbenen Freundes Peter Hamm ediert.
Und bei Schirmer/Mosel von Ihnen gerade jetzt auch ein sehr schönes und reich bebildertes Buch über den italienischen Maler Giovanni Segantini erschienen. Mir war der Maler  bis dato völlig unbekannt.
Den liebe ich  seit vierzig Jahren.
Bei aller Liebe: Das klingt nach viel Arbeit und wenig Brot …
… ja, vor allem deshalb, weil der grösste Teil dieser Bücher nicht mehr besprochen wird.

Ihrer aktiven Zeit als umschwärmter Verleger von Hanser?

Es ist schon bitter, wenn bestimmte Sachen nicht mehr zur Kenntnis genommen werden und keiner von denen mehr anruft, mit denen man jahrelang eng zusammengearbeitet hat. Aber damit muss man sich abfinden. Ich bin sehr dankbar, dass die Verlage mich nicht fallengelassen haben. Ich selber bin in keinen Netzwerken vertreten und kann nach meiner Lebensarbeit auch keine Eigenreklame machen.
Gilt das auch für den Buchhandel? 
Zu meiner grossen Überraschung rief vor ein paar Monaten Klaus Bittner aus Köln an und fragte, ob ich nicht einmal einen Band der kleinen Reihe von 5plus schreiben möchte. Das habe ich getan. Der Band heisst  Strandbad Wannsee, Szenen einer Berliner Kindheit und kommt demnächst raus.Wenn das für andere interessant ist, will ich versuchen, eine grössere Fassung zu schreiben, nämlich darüber, wie einer, der in einem Dorf in Sachsen-Anhalt geboren wurde, sich plötzlich für Literatur interessiert und sein ganzes Leben damit verbringt.
Das hört sich nach einer Vorstudie für Ihre Autobiografie an. Wenn ich richtig gezählt habe, werden Sie im Winter nächsten Jahres achtzig Jahre alt. 
Sollte ich am Leben bleiben und meine Antikörper wachsen und gedeihen, will ich einen Band mit Einführungen, Nachrufen,Vor- und Nachworten, Essays und soweiter zusammenstellen.Das Manuskript hat einen Umfang von etwa drei- bis viertausend Seiten, daraus möchte ich gerne eine Auswahl machen. Das ist mein Memoiren-Ersatz.
Und sonst? Die Situation der Poesie?
An der Situation der Poesie hat sich nichts geändert: Sie ist miserabel und muss mit Stipendien und Preisen am Leben gehalten werden. Andererseits ist die Poesie in Deutschland, Europa und der Welt so reich, innovativ und interessant, dass man sich keine Sorgen zu machen braucht. Ich habe gerade bei Secession einen sehr schönen Band mit Gedichten des iranischen Dichters und Übersetzers Ali Abdollahi herausgegeben – Ali hat alle deutschen Dichter ins persische Farsi übersetzt und wohnt jetzt in Berlin. Wenn es einen gibt, der die deutsche Poesie ins Land von Hafis gebracht hat, dann er.
Eine Besprechung des Buches habe ich aber nicht gelesen. Verzweifeln Sie nicht daran??
Solange es noch dreihundert gute Bücher pro Jahr gibt, habe ich keine Langeweile. Demnächst wird der Kölner Dichter Jürgen Becker neunzig Jahre alt, das ist eine gute Gelegenheit, sein Gesamtwerk wieder zu lesen. Das kann nur ein schöner Sommer werden.
Höre ich daraus einen leicht bitteren Unterton? 
Das hören Sie richtig. Ich merke, wie ich seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine ständig abgelenkt bin. Ist es wirklich möglich, dass noch in diesem Jahrhundert ein Schwerverbrecher einen Mord an Menschen, Tieren, Städten und Landschaften verüben darf und ihm dies von der eigenen Bevölkerung als Friedensmission abgenommen wird? Es ist der totale Bankrott unserer Weltordnung.
Die Fragen stellte Christian von Zittwitz
Kommentare (6)
  1. „Ist es wirklich möglich, dass noch in diesem Jahrhundert ein Schwerverbrecher einen Mord an Menschen, Tieren, Städten und Landschaften verüben darf ….. Es ist der totale Bankrott unserer Weltordnung.“Auf den Punkt. Es verschlägt einem die Sprache – und ein stiller Ort der Quarantäne passt dazu.
    Danke für die Einblicke, lieber Michel.
    Mit herzlichem Gruß aus Berlin, auch ohne Netzwerk. aber seit 50 Jahren dankbar für die Bücher, die ich ohne Dich nicht gelesen hätte. Margarete Schwind

    dankbar für a

  2. Sicherlich haben viele Antworten von Michael Krüger in diesem vorsommerlichen Gespräch eine bittere Färbung, aber ich höre da immer auch eine noch nicht ganz geschwundene Hoffnung auf ein Weiterleben der Poesie selbst in den finstersten Zeiten. Wie heißt es bei Jaccottet in seinen „Sonnenflecken“: „Ich wehre mich dagegen, dass das Grauen die ganze Weite meines Himmels infiziert.“ Daß Michael Krüger während seiner Zeit beim ‚Hanser Verlag“ Autoren wie eben Jaccottet, Berger, Tabucchi, Magris, Brodsky, Walcott, Herbert undundund dem deutschsprachigen Publikum präsentiert hat, war für viele Leserinnen und Leser eine große Bereicherung ihrer Weltsicht. Auch ich habe ihm da viel zu verdanken.

  3. „Ist es wirklich möglich…“ Auf den Punkt. Genau das war auch mein Gedanke!!!
    Vielen Dank, Michael Krüger!
    Gute Genesung in einem hoffentlich schönen Sommer an der frischen Luft wünscht Heike Strecker, Buchhändlerin aus Mühlhausen in Thüringen

  4. Auch ich teile die Hoffnung auf ein Weiterleben der Poesie und darauf, dass auch die Klassiker nicht vergessen werden. Andererseits – wenn schon ein Michael Krüger feststellen muss, dass seine Bücher nicht rezensiert werden, wieviel Hoffnung soll es da geben, dass die Erstübersetzung des größten russischen Dichters vor Puschkin, Gawriil Dershawin, überhaupt noch wahrgenommen wird? Zumal in diesen Zeiten? Dabei erscheinen viele seiner Gedichte höchst modern und aktuell.

  5. schönes interview, voller tipps – mal schauen, was den weg bis in den wienerwald schaffen wird… 🙃
    lieber herr michael krüger! ich wünsche ihnen alle freien antikörper dieser welt! 🤕und uns noch einige interessante bücher aus ihrer feder! 🖋📖
    mir persönlich bedeutet gerade ihre poesie sehr viel!
    von jenen, die sie verlegten – meine aktuelle bestellung aus dem hanser-fundus: ales steger…- ein top-tipp! 🌷🌻

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