Das heutige Geburtstagskind und Oetinger-Geschäftsführer Thilo Schmid erzählt von seiner Rückkehr zur Lyrik. Gerade ist sein Gedichtband Du bist eine Insel (BOD) erschienen.
Zur Jahrtausendwende warst Du auf dem besten Weg, ein auch international erfolgreicher Dichter zu werden. Seit dem Teenageralter hattest Du zahlreiche Nachwuchspreise, Stipendien und Förderungen erhalten, und Deine Gedichte erschienen in Anthologien, eigenen Gedichtbänden oder Literaturzeitschriften und wurden im Rundfunk gelesen. Du wurdest mit Patrick Süskind, Botho Strauß und Reiner Kunze verglichen – und hast dann, mit Mitte Zwanzig, einfach aufgehört zu publizieren. Wie kam es dazu?
Thilo Schmid: Nach meinem Abitur ging ich Anfang der 90er Jahre zunächst nach Frankfurt an der Oder und anschließend nach Leipzig, um dort für ein Jahr zu studieren und den mir damals noch fremden östlichen Teil unseres Landes und die Menschen dort kennenzulernen.
Mich interessierte die Nachwendezeit mit all ihren Wirren, Hoffnungen, Altlasten, Erwartungen. Darüber habe ich dann geschrieben, und diese Gedichte haben damals schnell viel Aufmerksamkeit erhalten.
Es war die Sicht eines jungen „Wessis“ auf ein wundes Land – das hat die Menschen in ganz Deutschland damals fasziniert. Einige dieser Gedichte wurden übrigens anlässlich der 25-Jahrfeier der Wiedervereinigung im hochroth Verlag in einer feinen, kleinen Ausgabe wieder neu aufgelegt – und sind heute noch immer lieferbar. Noch immer bekomme ich Zuschriften zu den Texten, das ist wirklich eigentümlich. Als hätte man als junger Mann eine Flaschenpost ins Meer geworfen, die noch immer an Ufern anlandet.
Nach der Rückkehr in den Westen Deutschlands tat ich mich dann zunehmend schwer mit dem damaligen Literaturbetrieb, der sich selbst feierte und förderte. Ich fühlte mich darin nicht länger wohl, und die anfängliche „Publish or perish”-Mentalität verlor ihre Gültigkeit für mich.
Die Notwendigkeit zu schreiben schwand mehr und mehr, andere Dinge in meinem Leben wurden wichtiger und forderten Raum. Ich gründete eine große Familie, und es galt, verlässlich Geld zu verdienen. So begann meine Karriere in der Buchbranche. Ich brach mein Studium ab und wurde erst Buchhändler bei Behrendt in Bonn, später bei Hugendubel am Marienplatz. Dann studierte ich noch einmal BWL und VWL mit dem Schwerpunkt Unternehmensführung und Organisationsentwicklung und wechselte zu MairDumont, später zu Carlsen und dann zur Verlagsgruppe Oetinger. Diese Jahre waren randvoll mit Arbeit, und es blieb wenig Zeit für anderes.
Was hat dich dann heute – über zwanzig Jahre nach deiner letzten Publikation – bewogen, wieder zu veröffentlichen?
Wieder war es eine große Wende in meinem Leben – und mit einem Mal waren auch die Gedichte wieder da, die Notwendigkeit, mich poetisch zu äußern.
In den letzten zwei Jahren sind sehr viele neue Gedichte entstanden. Die Mallorca-Gedichte, Landschafts- und Liebesgedichte, sind nun die ersten Texte, die veröffentlicht wurden. Sie sind eine Hommage an eine der schönsten Landschaften, die ich je kennengelernt habe, und zugleich eine Liebeserklärung an die Frau. mit der ich heute zusammen lebe: Julia Bielenberg.
Die in dem Band veröffentlichten Gedichte sind poetische Atempausen für die Seele. Sie feiern die Schönheit der Landschaft Mallorcas … und die Liebe. Sie sind Entgegnung – gegen die alltäglichen Herausforderungen und Angriffe auf den Geist. Sie erzählen von der wunderbaren, wilden Natur, von Orangen-, Zitronen- und Olivenbäumen, von Wanderung entlang der Küste, von verzaubernden Orten wie Valldemossa, Deià und Sóller, von der Kraft der Natur und der Schönheit, von der Vergänglichkeit, den großen Hitzen und den großen Nächten, den Sehnsüchten, den Geckos und Ziegen … und vom Meer. Sie erzählen von Wenden und Wegen.
Wie kommt es überhaupt, dass du dich für Gedichte als Form entschieden hast?
Zeit meines Lebens hat mir sowohl das Lesen als auch das Schreiben von Gedichten die größtmögliche Annäherung an mich selbst und andere Menschen ermöglicht. Für mich sind Gedichte die natürlichste Art, mein Erleben der Welt in eine Form zu bringen, die Welt zu bewältigen und meine Gedanken mitzuteilen. Gedichte sind mir Resonanzraum und neben der Erfahrung, Kinder zu haben, und der Erfahrung der Liebe, die größte Hoffnungsquelle meines Lebens.
Ihre Schönheit gibt mir Kraft, sie geben mir Worte, Bilder, sie verbinden mich mit der Welt, und sie heben für Momente die Einsamkeit auf.
Kennengelernt habe ich Gedichte in der Bibliothek meiner Eltern – beim Stöbern darin ist mir als Kind der Band „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze in die Hände und ins Herz gefallen. Als ich diese Gedichte gelesen habe, wusste ich sofort: Das ist es, das ist die richtige Form für mich. Das entspricht meiner Art, die Welt wahrzunehmen. Das sagt mir etwas, das bewegt mich. Das macht Sinn. Bis heute zählen die Gedichte Reiner Kunzes für mich zu den bewegendsten, schönsten und tröstendsten Texten, die in deutscher Sprache in den letzten Jahrzehnten geschrieben wurden.
Was vermag Lyrik denn heute überhaupt noch, aus deiner Sicht?
Wir leben in einem Zeitalter der Entfremdung. Poesie verstehe ich als Akt der Selbstbestimmung, sie folgt dem Gefühl und führt die Vernunft an den Rand des Möglichen. Sie zeigt einen Grad der Menschlichkeit, der universell ist. Der poetische Augenblick kann die Entfremdung aufheben – und glücklich machen, Hoffnung geben.
Gedichte sind Rückzugsorte, an denen der Geist genesen kann. Orte der Schönheit, der Imagination, der Liebe und der Menschlichkeit – Orte der größtmöglichen Freiheit, die für die Herausforderungen der Wirklichkeit wappnen. Insofern brauchen wir Gedichte vielleicht sogar dringender denn je. Zumindest einige wenige von uns.
Wie kam es, dass du dich – selbst Verleger und Geschäftsführer eines Verlags – für eine Publikation bei BOD entschieden hast?
Ein Buch ist für mich ein Gesamtkunstwerk, eine Erfahrung für alle Sinne. „Du bist eine Insel“ sollte ein besonders wertiges Buch werden, das man gerne in der Hand hält, das man gerne verschenkt. Ich hatte klare Vorstellungen, was die Papier- und Druckqualität anging, und wollte z.B. ein Lesebändchen haben – und die vielen wunderbar farbigen Kunstwerke von Birte Thurow integrieren!. Das war überhaupt eine wunderbare Sache: Ursprünglich hatte ich Birte “nur” wegen eines Covers angefragt. Dann aber haben die Gedichte so viele Bilder in ihr ausgelöst, dass mehr und mehr Kunstwerke entstanden sind. Am Ende konnten wir uns kaum entscheiden und haben mehrere mit ins Buch genommen.
Das alles rechnet sich für einen “normalen”, kleinen Verlag heute kaum mehr. Verlage, die in Frage gekommen wären, schreiben mir: “Deine Gedichte sind wunderbar – aber Du weißt ja, wie das heute ist, mit Lyrik”.
Durch die gestiegenen Kosten sind alle Verlage unter einem irrsinnigen Druck. Das Risiko ist hoch, und die Absatzprognosen für Gedichte sind viel zu niedrig. Damals konnte ja auch noch niemand ahnen, wie gut sich die Gedichte eines 50-Jährigen, dessen literarische Vergangenheit über zwei Jahrzehnte zurückliegt und der über Mallorca und die Liebe schreibt, tatsächlich verkaufen würden.
Nun haben wir ein ganz wundervolles Buch vorliegen, das zweisprachig (in der wunderbaren Übersetzung von Angelica Ammar und Javier Salinas) und zudem zeitgleich in zwei Ländern erschienen ist – auch das war via BOD kurzfristig und unkompliziert möglich – und das bereits jetzt für Furore sorgt.
Was bedeutet das?
Die ersten Rückmeldungen sind geradezu überwältigend. Die Gedichte verkaufen sich äußerst erfolgreich und erreichen jeden Tag mehr LeserInnen in Deutschland und in Spanien – die Zahlen übertreffen unsere kühnsten Träume. Ich bin zutiefst beeindruckt von den vielen, begeisterten Rückmeldungen, Mails und Briefen, die mich erreichen. Etliche BuchhändlerInnen haben mein Buch bereits eingekauft, präsentieren und empfehlen es ihren Kundinnen, ganze Schaufenster werden damit gestaltet.
Für all das bin ich unglaublich dankbar. Ich ahnte, dass die Texte einigen Menschen gut gefallen könnten, dass sie nun aber so viele ansprechen – und das quer durch die Generationen – ist eine unglaubliche Freude. Und das nicht nur in Deutschland: Wir waren gerade wieder für einige Tage auf Mallorca – und durften auch dort erleben, wie die Mallorquiner und die Touristen vor Ort die Gedichte aufgenommen haben. Es gab zahlreiche Artikel und Interviews und die Bücher liegen in den Buchhandlungen der Insel aus – und an vielen Orten, die ich in ihnen beschrieben habe.
Egal, wo ich aus dem Buch lese, kommt es zu sehr emotionalen Momenten. Im August wird es sogar eine eigene kleine Lesereise über die Insel geben, und ich werde in Buchhandlungen und Orten der Kultur zu Gast sein dürfen – zusammen mit Angelica und Javier, die die Texte behutsam übertragen haben. Das wird der Sommer der Poesie!