Das Sonntagsgespräch Ralf Biesemeier über den nötigen Richtungswechsel für Verlage bei fortschreitender Digitalisierung

Nicht alle begrüßen die Veränderungen, die die Digitalisierung von Inhalten und die neue Mediennutzung mit sich bringt. Doch nicht nur Buchhandlungen müssen sich mit den neuen Begebenheiten arrangieren, auch Verlage werden vor neue Herausforderungen gestellt.

BuchMarkt hat Ralf Biesemeier, Geschäftsführer von readbox in Dortmund, dazu befragt, wie und warum sich Verlage den neuen Medien anpassen müssen.

Ralf Biesemeier

Sie sprechen von einem „Richtungswechsel für Verlage“. Warum?

Seit Jahren wird allerorts von den tiefgreifenden Veränderungen gesprochen, die die Branche erfassen und die an vielen Stellen sichtbar werden: die Weltbild-Krise, wöchentliche Meldungen über Schließungen von Buchhandelsflächen oder ein verlangsamtes E-Book-Wachstum. Die Buchbranche wird weiter durch unsichere Gewässer navigieren müssen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass weitestgehend „Digitalisierung“ immer noch mit „E-Book“ gleichgesetzt wird. Dabei geht es um mehr.

Um was denn genau?

Das Konsumverhalten und die Mediennutzung (auch Bücher sind Medien) ändern sich durch Technologieentwicklung und gesellschaftliche Einflüsse elementar.

Können Sie dafür Beispiele nennen?

Die wichtigsten Treiber für die Entwicklung, die zur Zeit besonders die Buchbranche, aber nicht nur die (denken Sie an die Automobil- und Zulieferindustrie und wie sich Mobilität verändert), erfasst, sind zum einen das Internet, zum anderen verliert der Handel im Internet an der Bedeutung, die er in der physischen Welt hat.

Also ist das Internet „schuld“ an der Veränderung?

Sozusagen. Das Internet ist zum integralen Bestandteil des Lebens geworden. Informationen und Wissen sind immer verfügbar, Die großen Internetfirmen kämpfen mit schnellen, einfachen Lösungen und mit Hardware, die immer näher an uns heran rückt: vom PC über das Laptop, Tablet, Smartphone zur Smart-Watch und Google Glass. Die Google-Sprachsuche „OK, Google“ und das Amazon-Smartphone werden nicht ohne Grund stark beworben.

Was bedeutet das für die Branche?

Es reicht nicht mehr aus, im Internet auf den Kunden zu warten. Der Konsument hat im und durch das Internet eine nie dagewesene Macht – und wird sich aus der Vielzahl an Angeboten das aussuchen, das schnell, einfach und zielgerichtet das aktuelle Bedürfnis befriedigt. In der Konsequenz bedeutet das: Das Angebot kommt zum Kunden, der Kunde nicht zum Angebot. Und Anbieter müssen verstehen, wie der Konsument „tickt“, um ihn erreichen zu können.

Warum hat der Handel im Internet nicht die gleiche Bedeutung, wie in der physischen Welt?

Der Handel verliert im Internet die Bedeutung, die er in der physischen Welt hat, weil das Internet Transparenz schafft. Für den Nutzer ist es einfach festzustellen, welche Produkte es gibt, die seinen Anforderungen am besten entsprechen, und wo sie am schnellsten, einfachsten und günstigsten, falls „günstig“ für den Käufer einen Wert darstellt, zu bekommen sind. Transparenz, Produkt- und Preisvergleiche sind leicht herzustellen. Der Konsument hat die Wahl und wird diese Wahlfreiheit auch immer nutzen.

Aber die Möglichkeiten des Internets werden doch noch gar nicht komplett ausgeschöpft …

Tatsächlich stehen wir in vielerlei Hinsicht erst am Anfang der Entwicklungen. Ich bin mir sicher: Der gesamte Buchmarkt wird in den nächsten Jahren umgekrempelt werden, mit allen Konsequenzen, also auch und gerade der Print-Bereich. Denn die Auswirkungen der Digitalisierung beziehen sich nicht nur auf die Formate, die genutzt und verkauft werden, sondern auf den Informations-, Kauf- und Bezugsprozess selbst.

Steht der Handel dabei außen vor?

Nach wie vor ist der Handel der vornehmliche Geschäfts- und Ansprechpartner der Verlage. Vertriebsaktivitäten wurden demgemäß auf die Key-Accounts konzentriert. Wichtig ist, dass die Titel eines Verlags im Sortimentsbuchhandel verfügbar sind: Was im Regal steht, wird verkauft, was dort nicht unterkommt, existiert für den Kunden nicht. Verfügbarkeit ist Sichtbarkeit und Kaufbarkeit. So sind Verlage zum großen Teil auch immer noch organisiert: Sie investieren in den Handel und ignorieren die Bedeutung des Endkunden für das eigene Geschäft – eine gefährliche Situation in Zeiten schwindender Buchhandelsflächen und steigender Online-Umsätze.

Warum?

Im Web-Zeitalter funktioniert das Verkaufen anders. Insofern verliert der Buchmarkt auch ein Stück weit seine besonderen Gesetze, und nur nebenbei bemerkt: Es ist daher auch keine schlechte Idee, wenn Verlage sich anschauen, wie andere Branchen im Web ihre Produkte vermarkten.

Was bedeutet das für die Verlage?

Verkaufen und Vermarkten im Web-Zeitalter heißt für Verlage konkret, dass die reine Verfügbarkeit von Titeln, also die Präsenz im Handel, kein Kriterium mehr sein kann. Im Web ist Verfügbarkeit sehr leicht – viel leichter als in der physischen Distribution – sicherzustellen; wenn man so will: das Regal des Webs ist unendlich groß und Speicherplatz ist billiger als Ladenflächen in den Innenstädten. Und das ist das erste Problem: Durch das leichte und billige „Verfügbarmachen“ entsteht ein größer werdendes Überangebot.

Worauf kommt es dann an?

Worauf es nun ankommt, ist die Sichtbarkeit der Titel. Für den digitalen Kunden ist Verfügbarkeit nicht mehr gleichzusetzen mit Sichtbarkeit und Kaufbarkeit.Sichtbarkeit ist im Web viel schwerer herzustellen. Der Buchhandel verliert in diesem Szenario an Bedeutung. Er ist nicht mehr die ausschließliche Schnittstelle zwischen Verlagen und Lesern. Vielmehr müssen die Verlage versuchen, mit den Lesern direkt in Kontakt zu kommen; das ist in der Tat für die Verlage ein Richtungswechsel.

Was bedeutet dieser Richtungswechsel für die Verlage?

Für Verlage stellt dieser Richtungswechsel heute eine Herausforderung dar, denn sie kennen ihre Leser kaum. Umgekehrt identifizieren Leser die Bücher kaum mit Verlagen. Besonders in der Belletristik sind eher die Autoren die Marken, nicht aber die Verlage. Marken und Markenbindung haben die meisten Verlage in der Vergangenheit nicht aufgebaut, nicht aufbauen müssen.

Das heißt, für Verlage ist besonders wichtig, sich selbst als Marke zu etablieren?

Ja, das werden sie nachholen müssen, denn Marken sind wichtige Anker, gerade, wenn Märkte und Angebote unübersichtlich sind. Marken können Vertrauen schaffen, zum Beispiel in die Qualität der Produkte, und dieses Vertrauen ist eine gute Voraussetzung für das, was der Branche heilig ist: das Preisniveau von Büchern und E-Books.

Was brauchen Verlage, um sich zu positionieren?
Dafür brauchen die Verlage Informationen, über die sie derzeit in der Regel nicht verfügen.

Welche zum Beispiel?

Eine durchdachte und gut geplante Datenanalyse ist der Schlüssel zu vielem, was im digitalen Vertrieb und der digitalen Vermarktung wichtig ist. Nicht zuletzt zählt Geschwindigkeit. Täglich verfügbare Verkaufszahlen und -analysen sind die Voraussetzung, um strukturierte Kampagnen durchzuführen und Erfolgsfaktoren in der Werbewirkung zu identifizieren. Wie will man zum Beispiel die Auswirkungen einer dreitägigen Werbeaktion in einem bestimmten Online-Shop feststellen, wenn man erst mit dem nächsten Quartalsende pauschale Abverkaufszahlen erhält? Daten sind nicht bloß für Online-Kampagnen wichtig und sinnvoll nutzbar: Es ist auch nützlich festzustellen, welche Klientel auf eine Anzeige in welchem Zeitraum und in welchem Shop besonders reagiert. Und das nicht Wochen später. Da können teure Aktionen schnell verpuffen. Die Digitalisierung beschleunigt die Vertriebszyklen, man muss schnell reagieren und dafür braucht man schnell verlässliche Daten.

Ist das denn noch nicht möglich?

Um das zu realisieren – so kommen wir von einem zum anderen – fehlen vielfach noch geeignete Systeme und auch die nötigen Strukturen und Kompetenzen, denn die vorhandenen sind noch auf ganz andere Prozesse ausgerichtet. Die Fäden müssen beim Verlag und nicht beim Handel zusammenlaufen. Nur dann können sie das Wissen nutzen und Produkte, Preise, Vertriebswege und Vermarktungsstrategien auf die Erwartungen und das Konsumverhalten des „digitalen Kunden“ ausrichten.

Die Fragen stellte Friederike v. Raison

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