Björn Kuhligk über die Beweggründe seines Offenen Briefes und die Frage, ob der Antisemitismus im Literaturbetrieb mittlerweile „verankert“ ist: „Schweigen und Nicht-Reagieren ist – zumindest nach außen – Haltungslosigkeit“

Björn Kuhligk: “ Sicherlich ist auch Unsicherheit und Überforderung dabei. Schweigen kann allerdings auch eine Macht herstellen, die Jüdinnen und Juden wiederum Angst macht, weil das Schweigen nichts, absolut gar nichts, gegen das, was ist, setzt. Schweigen und Nicht-Reagieren ist – zumindest nach außen – Haltungslosigkeit“ (c) privat

Am 27. Oktober haben Björn Kuhligk und Marcus Roloff  einen Offenen Brief veröffentlicht. Darin rufen sie den Literaturbetrieb auf, sich deutlich zur Solidarität mit Juden und Jüdinnen und mit dem Staat Israel zu positionieren, wir berichteten.

Thilo Schmid, Schriftsteller, Geschäftsführer der Verlagsgruppe Oetinger und Mitunterzeichner des Offenen Briefes, sprach mit Björn Kuhligk zum Thema:

Am 27. Oktober hast Du mit dem Lyriker und Übersetzer Marcus Roloff im Netz einen Offenen Brief veröffentlicht. Darin bringt Ihr Eure Enttäuschung über „das dumpfe und laute Schweigen“ des Literaturbetriebs zum Ausdruck…und fragt Euch sogar, ob der Antisemitismus im Literaturbetrieb mittlerweile „verankert“ sei… Woran macht Ihr Eure Beobachtungen fest und was genau hättet Ihr von wem erwartet?

Björn Kuhligk: Der Literaturbetrieb hat in der Vergangenheit, zum Beispiel bei dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, sofort Solidarität mit der Ukraine gezeigt. Es war die letzte Situation vor der jetzigen, zu der sich jede:r in irgendeiner Form verhielt. Es wurden Solidaritätsbekundungen veröffentlicht und Solidaritätslesungen veranstaltet. Verlage publizierten in Kürze Bücher, die sich damit befassten. Der Literaturbetrieb weiß sehr genau, wie Solidarität gezeigt wird. Nach dem Angriff der terroristischen Hamas auf Israel, bei dem Menschen bestialisch ermordet, Frauen massenvergewaltigt, Kinder und Säuglinge getötet, Menschen geköpft wurden und 240 Menschen als Geiseln genommen wurden, gab es nahezu keine solidarische Reaktion. Eine klare Position des Literaturbetriebs ist das, was fehlt.

In Eurem Brief stellt Ihr die Frage, ob der Antisemitismus im Literaturbetrieb bereits so weit verankert ist, dass daher das Schweigen rührt?  Kann das Schweigen aber nicht vielleicht auch schlichtweg Ausdruck einer Überforderung sein?

Sicherlich ist auch Unsicherheit und Überforderung dabei. Schweigen kann allerdings auch eine Macht herstellen, die Jüdinnen und Juden wiederum Angst macht, weil das Schweigen nichts, absolut gar nichts, gegen das, was ist, setzt. Schweigen und Nicht-Reagieren ist – zumindest nach außen – Haltungslosigkeit. Und wenn so gut wie alle schweigen, kann es auch sein, dass der Antisemitismus so weit im Literaturbetrieb verwurzelt ist, dass das Schweigen beabsichtigt ist. An der deutlichen Stellungnahme des Stiftungsrates für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der am Dienstag veröffentlicht wurde, könnten sich andere literarische Institutionen ein Beispiel nehmen, wie es gehen kann. Zudem hat der PEN Berlin eine Veranstaltung mit Autor:innen organisiert, die Texte von Autor:innen lesen werden, die nicht mehr leben. Die Lesung heißt „Nie wieder ist jetzt – Texte gegen Antisemitismus“. PEN Berlin und Deutsches Theater haben es fertiggebracht, in der Ankündigung kein einziges Mal das Wort „Israel“ zu verwenden. Ansonsten wird weiter geschwiegen. Jüdische Autor:innen haben uns geschrieben, dass sie sich nun weniger allein fühlen. Schon deswegen ist dieser Brief wichtig.

Du lebst in Berlin und erlebst, was derzeit auf den Straßen passiert…was hat sich hier verändert und wie nimmst Du die Situation wahr?

In einigen Vierteln Berlins sind die Straßen von antisemitischem Hass besetzt. Ich denke aber, dass das nicht nur auf Berlin zu beziehen ist. Antisemitismus ist ein Phänomen, das aus der Mitte der Gesellschaft kommt, von rechts wie von links. Der Antisemitismus war nie verschwunden, er zeigt sich jetzt wieder unentstellter. Die Grenze dessen, was gesagt werden kann, ohne auf Widerstand zu stoßen, hat sich in den letzten Jahren immer weiter verschoben. Antisemitismus zielt auf die Vernichtung von Jüdinnen und Juden. Das zeigt die deutsche Geschichte: Wir leben in einem Land, das sich bemühte, alles jüdisches Leben zu vernichten. Daher muss man antisemitische Äußerungen unbedingt ernst nehmen. Es ist wichtig – nicht nur für den Literaturbetrieb – Haltung zu zeigen und diese Haltung in die Öffentlichkeit zu tragen.

Neben Zuspruch gab es vielzählige und teilweise aggressiv geäußerte „Gegenmeinungen“ – mitnichten teilen alle Beteiligten die deutsche Staatsräson – wie gehst Du damit um?

Ein offener Brief stellt Öffentlichkeit her. In der Hoffnung, dass sich die Öffentlichkeit zu dem, was in dem Brief formuliert ist, verhält. Dass ein offener Brief, der kurz und auf den Punkt ist, Gegenrede verursacht, liegt in der Natur der Sache. Und dass unser offener Brief eine Unruhe in den sozialen Netzwerken und hoffentlich auch im Literaturbetrieb verursachte, liegt, denke ich, daran, dass diese Unruhe schon vorher da war und nun an die Oberfläche und zur Sprache kommt. Außerdem war es wichtig, den jüdischen Autor:innen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu sagen: Ihr seid nicht allein, wir sind an Eurer Seite. Zudem ist es wesentlich, gegen jegliches Relativieren die Stimme zu erheben.

Worin liegt die Gefahr des Relativierens?

Wer relativiert, verdreht das, was ist, durch Abschwächung und Zurücknahme, und setzt den Terror der Hamas in ein Verhältnis und tut damit so, als könnte man ihn begründen. Damit wird ein bekanntes antisemitisches Stereotyp bedient, nämlich dass die Juden selber schuld am Antisemitismus seien. Das ist grundgefährlich und verlangt Haltung und Widerrede.

In der Zwischenzeit haben über 1400 Menschen aus dem Literaturbetrieb, in erster Linie Autor:innen, den Brief unterzeichnet, darunter die beiden Nobelpreisträgerinnen Herta Müller und Elfriede Jelinek, Bov Bjerg, Amelie Fried, David Safier, Marcel Beyer, Christian Kracht, Sibylle Berg, Lutz Seiler, Julia Franck und Uwe Timm. Das Ganze hat sehr schnell eine große Dynamik bekommen…wie soll es nun weitergehen?

Wir bemühen uns derzeit, eine große Solidaritätslesung in Berlin auf die Beine zu stellen. Das kann in anderen Städten und Landkreisen ebenso organisiert werden – eigenständig, zusammen mit anderen Autor:innen. Wenn von den Räumen, in denen Literatur stattfindet, also den literarischen Institutionen, Akademien, Literaturhäusern und Buchhandlungen, keine Unterstützung kommt, stehen sicherlich andere Räume zur Verfügung. Darüber hinaus bleibt es enorm wichtig, Haltung nach außen zu zeigen. Gegen Antisemitismus und in Solidarität mit Israel.“

 

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