Stadtschreiber-Fest in Bergen

F. C. Delius, Ulrich Peltzer, Helmut Ulshöfer
und Felix Semmelroth übergibt die Urkunde (v.l.)

Gestern Abend wurde bei Volksfest-Stimmung traditionell im sehr gut besuchten Festzelt auf dem Marktplatz in Frankfurt Bergen-Enkheim der 35. Stadtschreiber Friedrich Christian Delius verabschiedet und der 36. Stadtschreiber Ulrich Peltzer [mehr…] in sein Amt eingeführt.

Der Ortsvorsteher von Bergen-Enkheim, Helmut Ulshöfer, begrüßte die vielen Gäste, darunter die ehemaligen Stadtschreiber Eva Demski und Reinhard Jirgl. Helmut Ulshöfer erinnerte an die Antrittsrede von F. C. Delius vor einem Jahr. „Und wer der Dichtkunst Stimme nicht vernimmt, ist ein Barbar, er sei auch, wer er sei“, schrieb Goethe, dessen Geburtstag sich gestern, am 28. August, zum 260. Mal jährte, 1786. Diese Worte setzte F. C. Delius praktisch als Überschrift seinem Jahr in Bergen voran. Er weckte damit hohe Erwartungen, die er – das bestätigte der Ortsvorsteher unter Beifall – erfüllte, u.a. mit der Buchpremiere von Die Frau, für die ich den Computer erfand [mehr…] in der hiesigen Nikolauskapelle.

Gleichzeitig verwies Helmut Ulshöfer auf die Tradition des ersten Stadtschreiberamts in Deutschland, das an keinerlei Bedingungen geknüpft ist. „Die künstlerische Freiheit muss auch psychisch gelebt werden, das haben wir in all den Jahren gelernt“, fügte er hinzu.

Der Kulturdezernent der Stadt Frankfurt, Prof. Dr. Felix Semmelroth, betonte die Ambivalenz des Festaktes: Die Verabschiedung des alten Stadtschreibers stimme ein wenig traurig, gleichzeitig freut man sich über die Amtseinführung des neuen.
Bergen-Enkheim, scherzte der Dezernent, habe den Charme eines gallischen Dorfes, zusammen mit dem facettenreichen Frankfurt biete es viel literarisches Material.

Der Festredner Dr. Heribert Prantl würdigte den Frankfurter Stadtteil ebenfalls: „Ich bewundere ihre Courage“, sagte er und zielte damit auf die Tatsache, dass erstmals ein Festredner aus Bayern in diesem Zelt auftritt. In seiner Ansprache zitiert er zunächst Ulrich Peltzer, der in seinem Roman Teil der Lösung einen Clown im Prolog ausrufen lässt: „Bleiben Sie wachsam …“. In diesem Buch wird das Sony-Center in Berlin als Legoland der Überwachung dargestellt, das Recht dort ist das Hausrecht der Regierenden.

In diesem Jahr wurde auch der 60. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundsrepublik Deutschland begangen. Heribert Prantl forderte zum Nachdenken auf: Was ist von diesem Grundgesetz noch übrig geblieben? Schließlich kann sich niemand mehr sicher sein, dass sein Telefon nicht abgehört wird. Seit 2002 gibt es keine anonymen Auslandsüberweisungen mehr. „Es klingelt nicht mehr, wenn der Staat kommt. Er ist schon da“, konstatierte Prantl unter Verweis auf Worte von Bertolt Brecht.

Eine „präventive Wende“ habe sich vollzogen, das Strafrecht interessiere nicht mehr. So wandelt sich der klassische Rechtsstaat in einen Präventivstaat, der seine Kontrollbedürfnisse entsprechend der gegebenen Möglichkeiten entwickelt und ausweitet. Inzwischen gilt jeder Einzelne als potentiell gefährlich. Aus der Optimierung der Anti-Terror-Datei wird bei unrechtmäßiger Handhabung eine Pervertierung, aus dem Grundsatz „in dubio pro libertate“ ist „in dubio pro securitate“ geworden. Ist es nicht längst in der Welt der Gegenwart so, dass Daten, die unter der Folter erfasst werden, mittlerweile ebenso wenig stinken wie Geld (pecunia non olet)? Wird nicht die Generalermächtigung zum Daten sammeln von den Menschen als das kleinere Übel angesehen?
Wer den Rechtsstaat stützen will, muss sich den Grundsatz „Recht sichert Freiheit“ zu eigen machen. An diese Maxime hielten sich vor 60 Jahren die Verfasser des Grundgesetzes. 1949 herrschte kein Nachkriegsidyll, wie man uns jetzt glauben machen will. Die Verfassung ist nicht überholt und unzeitgemäß. „Die Kirschen der Freiheit werden uns madig gemacht“, verdeutlichte Heribert Prantl. Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht umgekehrt – das sollte auch heute und hoffentlich noch länger gelten. Deshalb gilt mehr denn je: Bleiben Sie wachsam.

„Jetzt wird’s schwer – nach dieser Musik“, begann Friedrich Christian Delius seine Abschiedsrede und würdigte damit den mitreißenden Boogie-Woogie des Christoph Oeser Trios, das den Festakt hervorragend musikalisch begleitete.
Der Autor erinnerte an die Schlacht von Bergen im Jahr 1759, einer dieser Prestigkriege wurde hier, wo jetzt das Zelt steht, und im Umfeld ausgetragen, aus heutiger Sicht völlig absurd. F. C. Delius war im Heimatmuseum des Ortes auf ein Diorama mit 2260 Zinnsoldaten gestoßen und machte sich darüber Gedanken, Phantasie-Training nannte er es und stellte die damalige Schlacht der heutigen an den Wertpapierbörsen und Banken gegenüber. In beiden Bataillen ging es um die Weltherrschaft, beide hinterließen massenweise Desillusionierung. So kam es, dass Bergen am 13. April 1759, als sich London und Berlin auf der einen und Paris und Wien auf der anderen Seite gegenüberstanden, zum Angelpunkt der Weltpolitik wurde. Schließlich hatten die Franzosen Bergen gewonnen, allerdings Amerika, Kanada und Indien verloren.

Lassen sich Lehren aus der Vergangenheit ziehen? Jedenfalls die, dass Schlachten überflüssig sind, denn die alten Kempen dürfen doch schon wieder fast ungehindert Beute machen.

Seinem Nachfolger im Stadtschreiberamt wünschte F. C. Delius, dass in dessen Amtszeit nicht nur in Hessen Recht und Gesetz besser geachtet werden als gegenwärtig. Er erinnerte an die absurde Geschichte der vier als berufsuntauglich entlassenen pflichtbewussten Steuerfahnder.

F. C. Delius dankte nicht zuletzt Monika Steinkopf von der Berger Bücherstube, die wie immer mit ihrem Stand im Zelt vertreten war, und nannte sie „Deutsche Meisterin im Buchhandelswesen“. Auch der „Deutschen Meisterin im Gastgeben“, Adrienne Schneider, dankte er.

Felix Semmelroth verlas die Urkunde für den neuen Stadtschreiber folgte, F. C. Delius übergab mit viel Schwung den großen Schlüssel an den neuen Hausherrn Ulrich Peltzer.

Der 36. Stadtschreiber zeichnete in seiner Rede ein Bild von sich, indem er auf Besuche in Neapel und Capri verwies, die ihn tief beeindruckten. Er erinnerte an den 1898 geborenen Autor Curtio Malaparte und sein Buch Die Haut. Malaparte baute sich auf Capri ein Haus, eines der schönsten weltweit. In diesem Domizil trafen sich berühmte Künstler, für Ulrich Peltzer sind im Film Le mépris von Jean-Luc Godard (1963) diese Treffen hervorragend beschrieben worden. Ihm, so spannte er den Bogen, gehe es darum, wie sich künstlerische Integrität in einer kapitalistischen Verwertungspraxis bewahren lässt.

Ein Novum ist die Vereinbarung der Kulturgesellschaft Bergen-Enkheim mit dem Verein Kultur für alle. Auf page(www.kulturpass.net) werden die StadtschreiberInnen von Bergen Texte veröffentlichen, die von den Lesern kostenlos und zum eigenen Gebrauch heruntergeladen werden können. So entsteht eine ungewöhnliche Anthologie im Internet.

JF

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