„Verborgene Chronik 1914 sowohl Buch als auch Hörbuch des Monats

Die Verborgene Chronik 1914 (Galiani) wird gleich doppelt ausgezeichnet: sowohl als „Buch des Monats“ als auch als „Hörbuch des Monats“.

Nachdem das 6-teilige Hörbuch der unlängst erschienenen Chronik (Hörverlag) von Lisbeth Exner / Herbert Kapfer / Das Deutsche Tagebucharchiv zum „Hörbuch des Monats“ August gewählt wurde, zieht die Vorlage, das gedruckte Buch, aus dem die Autoren selbst die gekürzte Hörfassung zusammenstellten, jetzt nach: Die Darmstädter Jury des „Buchs des Monats“ hat Werk zum „Buch des Monats“ gewählt.

Die Begründung der Jury:

Geschichtsschreibung ist immer etwas Nachträgliches. Man muss nicht so weit gehen wie Hayden White, in ihr nichts anderes als Dichtung zu sehen. Aber wohl niemand würde bestreiten, dass historiographische Erklärungsmodelle sich stark von der perspektivisch beschränkten Innensicht der Zeitzeugen unterscheiden. Der übergroße Vertrauensvorschuss für die abgeklärte Einordnung von Geschehnissen durch professionelle Verwalter der Historie hat indes das Bewusstsein dafür sinken lassen, dass sich Geschichte immer nur als konkrete und erlebte ereignet, und dass sie als solche eine ganz eigene Dynamik entfaltet. Ein so hervorragendes publizistisches Projekt wie die auf drei Bände angelegte „Verborgene Chronik 1914 bis 1918“ vermag dieses Bewusstsein wieder zu schärfen.

Der erste nun vorgelegte Band enthält bislang unveröffentlichte, chronologisch sortierte Ausschnitte aus 37 Tagebüchern, die im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen aufbewahrt werden. Diese ungeschönten, unmittelbaren, mitunter Alltagssorgen einbeziehenden, aber auch immer wieder patriotisch verzerrten Protokolle machen es möglich, den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die ersten militärischen Erfolge (aus deutscher Sicht) und den Übergang zum Stellungskrieg im Westen quasi „live und in Farbe“ nachzuerleben. Ein so kluges wie behutsames Arrangement sorgt dafür, dass sich ein Panoramabild ergibt, während der Leser verschiedenen Personen zugleich folgt: dem Militärarzt, dem Infanteristen, einem jungen Mädchen aus Karlsruhe, mehreren Lazarettschwestern, dem Feldgeistlichen und so fort. Aus der Mehrstimmigkeit bezieht das Buch einen großen Teil seiner Faszination: Während an der Heimatfront die initiale Kriegsbegeisterung und der damals politisch korrekte Patriotismus bis Ende 1914 kaum abebbt, obwohl die ersten Nachrichten über Gefallene eintreffen, dominieren die Berichte von der Front bald schon grausame Details. Durch Berge von verstümmelten Leichen kämpfen sich die Soldaten, wobei die zwischen den Zeilen hervorlugende, oft in einzelnen Wörtern („trostlos“) versteckte Trauer über die Gewalttaten immer weniger zwischen Freund und Feind zu unterscheiden scheint.

Die Autoren Lisbeth Exner und Herbert Kapfer, die im Namen des Deutschen Tagebucharchivs die „Verborgene Chronik“ herausgeben, haben nicht nur eine überzeugende Auswahl aus dem Material getroffen, sondern zudem die Biographien der Beteiligten rekonstruiert und eine nützliche Zeittafel beigefügt. Was Fernsehfilmen trotz allen Aufwands nie gelungen ist, gelingt dieser Collage mit Leichtigkeit: die Generation unserer Urgroßeltern so nah heranzuholen, dass sie in ihrer Fremdheit und in ihrer mitunter frappierenden Vertrautheit ausgiebig besichtigt werden kann.
Darmstädter Jury Buch des Monats (Oliver Jungen)

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