Die Liebe zu Literatur und Sprache führte Thomas Zwerina zum Studium der Anglistik und Germanistik an der J. L. U. Gießen. Über die Jahre hat der umtriebige Autor und Komponist Bühnenerfahrung in den Bereichen Literatur, Theater und Musik gesammelt. Gemeinsam mit Evi Lerch bildet Zwerina das musikalische Duo Cellular Fools. 2018 ist Thomas Zwerina vollständig erblindet, was ihn aber als Kunstschaffenden nicht müde werden lässt. Jetzt hat er mit Eine Fingerkuppe Freiheit (HarperCollins) seinen ersten Roman vorgelegt.
Herr Zwerina, Eine Fingerkuppe Freiheit ist Ihr erster Roman. Sie erzählen darin von Louis Braille, dem Erfinder der gleichnamigen Schrift. Wieviel ist Dichtung, wieviel ist Wahrheit in Ihrem Roman?
Thomas Zwerina: Der größte Teil des Romans ist reine Fiktion. Wir wissen nicht, welche Worte sich Pierre-Armand Dufau und Louis Braille zum Beispiel im Eifer des Gefechts an den Kopf geworfen haben. Das Werk spielt mit der Geschichte, seinen Figuren und deren Konflikten in der Weise, als dass es eine schlüssige Story produziert, die Leserinnen und Leser für den Stoff begeistern soll. Viele der Charaktere sind historisch überliefert. Ihnen habe ich weitere Figuren zur Seite gestellt, um die Handlung auszuschmücken. So etwa Céline Clémence, die eifersüchtige, von Argwohn zerfressene Lehrerin, oder Émile Marson, den Helferschüler und Spürhund des stellvertretenden Schulleiters am INJA, Pierre-Armand Dufau.
Es gab ja bereits früher die sogenannte „Nachtschrift“. Was unterscheidet Brailles Erfindung von den Vorgängern? Und was macht sie für Menschen, die nicht optisch lesen können, so besonders?
Louis Braille hat von der „Nachtschrift“ eines Charles Barbier profitiert. Barbiers „Écriture nocturne“ bestand ursprünglich aus 12 Punkten und sollte die vorherrschende „Reliefschrift“ ersetzen. Jedoch war die „Nachtschrift“ raumgreifender als Brailles Schrift. Sie passte nicht unter eine Fingerkuppe, was das Ertasten der einzelnen Zeichen schwierig machte. Ferner entwarf Barbier ein relativ kompliziertes Zeichensystem, das – vereinfacht gesprochen – auf den Lauten der französischen Sprache basierte. Louis, der bereits mit zwölf Jahren an seiner Blindenschrift zu arbeiten begann, reduzierte die 12 Punkte Barbiers auf die revolutionären 6 Punkte. Die Einfachheit seiner Erfindung ist beeindruckend. Mit ihr vermochte er alles Sprachliche auszudrücken. Ja mehr noch! Er entwickelte sogar ein simples und effizientes System für die Musiknotenschrift und die Mathematikschrift. Jedes seiner Zeichen passt unter eine Fingerkuppe, sodass ein umständliches Herumfühlen wegfällt. Einfach genial!
Sie selbst sind blind. Was bedeutet das für Ihr Schreiben? Sehen Sie die Welt „mit anderen Augen“ als Sehende?
Das ist eine interessante Frage, die ich mir auch schon gestellt habe und für die ich immer noch eine kluge Antwort suche. Vielleicht müssen wir das den Leserinnen und Lesern mutig überlassen. Aber ganz ehrlich – ich will diesen Aspekt nicht überbetonen. Wir Menschen sind doch alle die Summe aus unseren Erfahrungen. Mein Sehen hat sich mittlerweile ganz nach innen verlagert. Die Welt in mir ist zeitweise sehr bunt und schrill, manchmal schwarz-weiß und bisweilen recht surreal. Ich lebe mit mir und meiner Umwelt in einer synästhetischen Vakuole. Da kann es schon mal zu Sichtweisen kommen, die sich beim Schreiben in ungeahnter Weise Bahn brechen.
Abgesehen von der Schriftstellerei sind Sie Musiker. Hat auch das besonderen Einfluss auf Ihr Schreiben?
Durchaus! Sprachklang und -rhythmus sind wesentliche Elemente in meinem Schreiben. Die Musikalität steckt in mir drin und lässt sich nicht so einfach abschütteln. Meine „Fingerkuppe Freiheit“ habe ich während des Schreibens stets auf die Grundmelodie hin befragt, auf den sprachlichen Ton und die Leichtigkeit beim Erzählen.
„Wir sind keine Regenwürmer!“ zitieren Sie Braille am Ende Ihres Romans. Was meinte er damit?
Die betreffende Äußerung habe ich Louis, wie so Vieles, in den Mund gelegt. Den Überlieferungen nach pflegte Louis Braille das logische Denken, einen gesunden Menschenverstand und wurde von seinen Mitmenschen dafür bewundert. Brailles Äußerung ist als Verweis dahingehend zu verstehen, dass die Vernunft uns in die Wiege gelegt wurde. Und sicherlich spielt da auch der Aspekt von menschlicher Würde mit rein, wenn es um die Emanzipation von blinden Menschen geht. Wir müssen uns ja vergegenwärtigen, dass Blindheit zu Brailles Zeit nicht zuletzt als Strafe Gottes angesehen wurde.
Die Geschichte von Louis Braille ist ja durchaus auch eine tragische. Gibt sie uns dennoch Anlass zu Hoffnung?
Unbedingt! Louis Braille muss uns allen ein Vorbild sein, in seiner Stärke, seiner Konsequenz, seiner Beharrlichkeit, etwas Großes geschaffen zu haben, das die Welt verändert hat. Seine Geschichte ist der Beweis dafür, dass sich die Wahrheit am Ende durchsetzt. Außerdem sollten wir eines nicht vergessen: Louis hat mit dem blinden Mechaniker Foucault den Vorläufer für die mechanische Schreibmaschine entwickelt, den Raphigrafen. Wer schreibt, hofft, nicht wahr?
Beim Lesen Ihres Romans befällt einen immer wieder unvermittelt das Gefühl, dass einem hier ein Mensch, der selbst nicht sehen kann, die Augen für die Schönheit der Welt öffnet. Das wussten Sie, oder?
Louis Brailles Leben ist einer gewissen Tragik unterworfen. Das lässt sich nicht von der Hand weisen. Jene Tragik zu überwinden und in Schönheit zu verwandeln war mein innigster Wunsch. Dies hat den Roman auch so bildgewaltig werden lassen.