Adélaïde de Clermont-Tonnerre im Autorengespräch am Freitag: „Für mich als Frau, war es eine besondere Erfahrung, aus der Sicht eines Mannes zu schreiben“

Adélaïde de Clermont-Tonnerre

Adélaïde de Clermont-Tonnerre, 1976 in Neuilly-sur-Seine geboren, ist Journalistin und Autorin. Ihr Roman Der Letzte von uns erhielt 2016 einen der renommiertesten Literaturpreise Frankreichs, den Grand Prix du Roman de l´Académie Française. Amelie Thoma hat das Buch nun ins Deutsche übersetzt – heute erscheint es bei Aufbau. Wir haben mit  der Autorin de Clermont-Tonnerre gesprochen und wollten wissen:

BuchMarkt: Ihr Roman ist unter anderem aus der Sicht eines jungen Mannes geschrieben, der in den sechziger Jahren in New York lebt – was hat Sie an dieser Figur fasziniert?

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Adélaide de Clermont-Tonnerre: Werner, der von einem kinderlosen Ehepaar der amerikanischen Mittelschicht adoptiert wurde, ist jung, ambitioniert und auf der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennnung. Er kennt weder seiner biologischen Eltern, noch hat er irgendwelche Informationen über seine familiäre Vergangenheit. Umso entschlossener ist er, seine Zukunft selbst zu gestalten. Ich mag Figuren, die wie ein unbeschriebenes Blatt sind und sich aus sich selbst heraus neu erfinden. Ich bewundere die Energie, die dahintersteckt und die Fähigkeit, für sich eine Zukunft zu entwerfen. Werner ist für mich zu einem Wegbegleiter geworden, im Verlauf des Romans erlebt man seine Geburt, sieht ihn aufwachsen, für seine Ziele kämpfen und auch leiden. Trotz seiner Fehler, die er natürlich auch hat, ist er mir sehr ans Herz gewachsen…

Und für mich als Frau war es eine ganz besondere Erfahrung, aus der Sicht eines Mannes zu schreiben, zu versuchen, ihn zu verstehen, mir vorzustellen, wie er fühlt. Wer hat sich diese Fragen nicht schon einmal gestellt?

Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Roman gekommen?

Die erste Szene, die ich geschrieben habe, war die Geburt meines Helden während der Bombennächte in Dresden. Darauf hat sich dann alles andere aufgebaut. Diese erste Szene ist mir wie ein Blitz, eine Eingebung vor Augen getreten. Ich habe sie an einem Stück geschrieben, am Ende standen mir Tränen in den Augen, ich war völlig aufgelöst.  Ich habe mich schon seit längerem mit der Bombardierung Dresdens beschäftigt, weil sie meiner Meinung nach deutlicher als andere Ereignisse zeigt, wie schwer es ist, über den Zweiten Weltkrieg ein Urteil zu fällen. Wir als nachfolgende Generation haben die Chance und das Glück, in einer Welt aufgewachsen zu sein und zu leben, in der wir von solchen verheerenden Kriegen verschont bleiben und nicht Gefahr laufen, Entscheidungen treffen zu müssen, die eine derartige moralische und existenzielle Tragweite haben.  Wer von uns hat sich noch nicht gefragt, was er während des Krieges getan hätte, wer er gewesen wäre? Dies ist eine der Fragen, die sich durch das Buch zieht.

Würden Sie uns verraten, wie Sie schreiben? Wie sieht die Arbeit an einem Buch bei Ihnen aus?

Zunächst einmal stehe ich morgens sehr früh auf, während meine Kinder und mein Mann noch schlafen. Dann bin ich ausgeruht, noch ohne Verpflichtungen, und mein Kopf ist bereit. Zunächst entwickle ich die generelle Struktur des Romans, bemühe mich dann aber, sie nicht zu berücksichtigen. Ich schreibe Stück für Stück, nicht in chronologischer Reihenfolge, je nachdem, wozu ich gerade inspiriert wurde. Wenn man so will, schreibe ich in gewisser Weise wie beim Film, indem ich, ausgehend vom geschriebenen Material, meine Sequenzen „montiere“.

Sind Ihre Figuren realen Vorbildern entlehnt?

Nein, sie sind völlig frei erfunden, aber für mich sind sie real. Für mich existieren sie über das Buch hinaus. Ich weiß tausend Dinge über sie, die nicht im Roman vorkommen. Es mag sich merkwürdig anhören, aber ich hatte wirklich das Gefühl, mit ihnen zu leben. Werner, Rebecca, Marcus, Lauren, Martha und sogar der Hund Shakespeare sind zu einem Teil meines Lebens geworden, meines Alltags. Während ich schreibe, werde ich derart von meinen Figuren absorbiert, dass ich völlig ungeschickt und abwesend bin, ich lasse Dinge fallen, ich stoße mich überall, einmal habe ich sogar mein Handy in den Kühlschrank gelegt, ohne es zu merken. Bestimmt versuche ich unbewusst, nicht erreichbar zu sein, um weiterschreiben zu können ..

In Ihrem Roman vermischen Sie Fiktion und historische Tatsachen …

Die historischen Stellen des Romans sind sehr präzise dokumentiert.  Ich hätte nicht über diese so schmerzhafte Zeit schreiben können, ohne tatsachengetreu zu erzählen: Dresden, die Operation Paperclip, der Block 24 … Meine größte Sorge war es, die Menschen zu verletzten, die die Epoche gekannt haben, oder ihre Nachfahren.  Deshalb habe ich den Text zunächst von einem Historiker gegenlesen lassen und war sehr froh, als dieser keine gravierenden Fehler gefunden hat.  Er ist sogar auf ein absolut geniales Detail gestoßen: nämlich dass sich die Richtung der 5th Avenue im Jahre 1969 geändert hat, so dass ich im dritten Kapitel die Beschreibung eines Weges ändern musste.

Ihr Roman spielt in zwei Epochen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: während des Zweiten Weltkrieges und in den sechziger, siebziger Jahren. Was hat Sie dazu inspiriert, diese beiden Epochen zu wählen?

Die siebziger Jahre haben mich interessiert, weil sie ein Spiegel unserer Zeit sind. Die Rückkehr zur Natur, der Protest gegen die reine Konsumgesellschaft der fünfziger Jahre, all das korrespondiert mit unserem heutigen Interesse an Fragen des Umweltschutzes, Anti-Gloabalisierungsbewegungen, oder etwa der Hinwendung zum Minimalismus. Auch die Gewalt, die Attentate, die verübt werden, sind eine Gemeinsamkeit.

Der Unterschied zu den Siebzigern besteht allerdings darin, dass diese sich vor allem durch ihre künstlerische, musikalische und kreative Energie ausgezeichnet haben. Es waren die Jahre der großen Freiheit. Die Menschen haben wirklich geglaubt, dass sie die Welt ändern könnten.

Ich habe versucht, zu verstehen, woher diese außergewöhnliche Lebenslust kam…Ich denke, dass sie sich dadurch erklären lässt, dass die Menschen noch allzu sehr unter dem Eindruck der Gräueltaten standen,  die während des Zweiten Weltkrieges begangen wurden. Der Zeitpunkt, an dem die Atombombe entwickelt wurde, jene Waffe, die ermöglichte, die gesamte Menschheit auszulöschen, zählt sicherlich zu den schlimmsten der Geschichte. Die jungen Erwachsenen der siebziger Jahre wurden während des Krieges geboren oder sind in den Kriegsjahren aufgewachsen, eine Generation, die keine nostalgisch-verklärten Erinnerungen hat, sondern allein auf tragische Ereignisse, Verzweiflung und Trostlosigkeit zurückblicken kann. Diese Generation hat keine andere Möglichkeit, als an die Zukunft zu glauben und nach vorne zu blicken. Beide Epochen, der Zweite Weltkrieg ebenso wie die siebziger Jahre, scheinen uns aus heutiger Sicht sehr weit voneinander entfernt, dabei sind sie jedoch auf das engste miteinander verknüpft. Die eine hat die andere hervorgebracht.

Haben Sie beim Schreiben an ein bestimmtes Publikum gedacht?

Ehrlich gesagt, nein. Ich glaube, ein Buch, das versucht, sich an ein bestimmtes Publikum zu richten, wirkt künstlich. Ist es nicht gerade die Magie, die die Literatur ausmacht, diese seltsame Verbindung zwischen Text und Leser, die Intimität, die man durch den Gedankenaustausch mit einem anderen teilt? Und zwar außerhalb jeglicher Marketing-Überlegungen.

Mit welchem Schlüsselwort würden Sie Der Letzte von uns beschreiben?

Wenn ich die Geschichte dieses Romans mit einem Wort  beschreiben könnte, hätte ich ja nicht so einen Wälzer geschrieben! (lacht) Auch wenn ich natürlich hoffe, dass man sich als Leser schnell von der Geschichte gefangen nehmen lässt… Ich wollte einen Roman schreiben, der so ist wie die Bücher, die ich gerne lese: einen Roman, der fesselt.

Welche Bücher lesen Sie im Moment?

Garp und wie er die Welt sah von John Irving bleibt nach wie vor eines meiner Lieblingsbücher genauso wie Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez, aber ich habe gerade z.B. auch Au plaisir de Dieu des wunderbaren Autors Jean d’Ormesson gelesen, der uns leider kürzlich verlassen hat. Oder Die Kunst des Müßiggangs von Hermann Hesse, eine echte Lektion fürs Leben!

 

 

 

 

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