Bei HP V könnte manchem ein Debakel drohen

Heinz Gollhardt

Noch nie gab es eine derart hohe Erstauslieferung wie bei Harry Potter V. Und noch nie knüpften sich an einen einzigen Titel derart große Heilserwartungen. Wurde HP nicht zugetraut, das alles andere als erfolgreiche Umsatzjahr 2003 doch noch ins Positive zu reißen, ja, gar eine Trendwende auszulösen? Letzteres zeigt schon, dass solche Einschätzungen und Erwartungen eher ins Reich des Irrationalen gehören. Wie soll ein einziger Titel die Menschen dazu bringen, sortimentsweit wieder mehr Bücher zu kaufen?
Vorbestellungen sind ein Verkauf in den Handel, nicht an den Kunden. Eine Binsenweisheit, die übrigens sowohl für den richtigen wie für den zu hohen und den zu niedrigen Verkauf gilt. Ist der nicht vorhergesehene Erfolg schon ein Problem, weil er in der Regel zu Nicht-Lieferbarkeit führt, so ist der zu hohe Einverkauf in den Handel ein Debakel. Remissionen kosten beide Seiten Geld und den Verlag auch noch hohe Investitionen in die Produktion und Logistik.

Es gibt noch eine andere Binsenweisheit. Gerade bei länger laufenden sehr erfolgreichen Titeln ist die letzte Auflage oft die falsche. Da bestellt der Handel – an den Erfolg gewöhnt – als hätte er ein Abonnement auf Dauerhaftigkeit des Erfolges; der Verlag druckt entsprechend nach. Bei abflauender Nachfrage des Publikums remittiert der Handel und der Verlag muss einsehen, dass er auch ohne die letzte Auflage noch lange lieferfähig geblieben wäre.

Bei HP V könnte ein Debakel drohen, das in seiner Intensität mit der Euphorie des Anfangs vergleichbar wäre. Hier stehen Mengen zur Diskussion, die auch bei einem lang anhaltenden Erfolg des Buches nur schwer zu einem Ausverkauf führen dürften; einmal abgesehen davon, dass sie im Handel ein enormes Kapital binden.

Die exorbitanten Mengen dürften auch der Grund dafür sein, dass die Remissions-Diskussion schon derart früh nach der Erstauslieferung begonnen hat. Es ist ja nicht so, dass HP nicht mehr verkauft würde – auch die alten Bände werden noch nachgefragt. Aber der Blick ins Lager hat offenbar manchem Händler einen Schrecken eingejagt und lässt ihn panisch werden.

Der Handel ist mit Auskünften über den Verkauf des Titels äußerst zurückhaltend. Heftige Diskussionen im Hintergrund über die Möglichkeit von Remissionen sind aber ein untrügliches Zeichen für Fehldispositionen im Handel. Es heißt, dass gerade bei einigen Großen im Handel erst 20 % der Erstbestellung verkauft seien. (Dieser Text ist vor Ende des Weihnachtsgeschäfts geschrieben, kann also ein Wunder in letzter Minute leider nicht mehr berücksichtigen.)

Der Sortimentsbuchhandel hat den Schuldigen an dieser Erscheinung längst gefunden. Es ist der Verkauf des Buches durch Branchenfremde. Ganz falsch ist dieser Vorwurf nicht. Wären Tengelmann und Co. vom Verkauf ausgeschlossen worden, käme diese Nachfrage zumindest in Teilen dem Buchhandel zugute. Oder sind die Schuldigen doch Weltbild oder amazon? Die aber werden selbst vom traditionellen Buchhandel nicht als Branchenfremde

eingestuft. Allein diese beiden haben eine halbe Million oder mehr Exemplare eingekauft; dagegen spielen Tengelmann und Co eher eine kleine Nummer.
International tätige Firmen wie amazon haben offenkundig aus Erfahrungen auf anderen Märkten gelernt und entsprechend disponiert. Auch in England begann HP mit einer Riesennachfrage, die aber erstaunlich schnell abflaute. Diese Nachricht ging übrigens durch die Medien; sie hätte also auch von deutschen Firmen wahrgenommen werden können. Hat hier die reine Gier den klaren Kaufmanns-Verstand getrübt?
Man kann es drehen und wenden wie man will; das Problem ist eins der Disposition. Und da scheint es einen Unterschied zwischen den Großen des Handels und den Kleinen zu geben, der zugunsten der Kleinen ausschlägt.

Die kleinen Buchhändler haben im Durchschnitt eine intensivere Kundenbindung und -treue als die großen, die eher von der Laufkundschaft profitieren. Große Kundentreue erlaubt eine genauere Disposition; und die zahlt sich hier aus. Sie hören sich bei ihren Kunden schon einmal genauer um, als es den Großen angesichts der Menge von Laufkunden überhaupt möglich ist. Sicher spielt auch noch eine Rolle, dass die Kleinen – schon aus Gründen der Kapitalausstattung – weniger zum Think Big neigen als die Großen.

Carlsen nimmt für sich in Anspruch, vor Fehldispositionen gewarnt zu haben. Der Verlag leitet davon ab, zur Anerkennung von Remissionen nicht verpflichtet zu sein und sie auch nicht zu akzeptieren. Das dürfte nicht sein letztes Wort sein. Der Verlag muss bedenken, ob er das HP-Phänomen nicht grundsätzlich beschädigt, wenn er sich bei diesem Band kompromisslos zeigt. Außerdem will er noch andere Titel gut verkaufen.
Hier zeigt sich wieder einmal, dass ein umschmeichelter Favorit des Handels schnell in eine prekäre Situation geraten oder gar zum Buhmann werden kann, wenn eine Selbstläufer-Situation in Anstrengung umschlägt.

BuchMarkt 1/2004

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