Die Tagebücher von 1933-1939 von Hermann Stresau werden jetzt von Klett-Cotta unter dem Titel Von den Nazis trennt mich eine Welt zum ersten Mal vollständig vorgelegt. Stresau arbeitete in Berlin als Bibliothekar unter Max Wieser, der die ersten Bücherverbrennungslisten erstellte. Wieser hätte den in Amerika geborenen und zweisprachig aufgewachsenen Kollegen gern gehalten, da der aber nicht zu bewegen war, in der NSDAP einzutreten und mit den Nazis gemeinsame Sache zu machen, griff Wieser zum damals bewährten Mittel der Denunzination, um „reinen Tisch“ zu machen. Das war Anlass für Fragen an die beiden Herausgeber Ulrich Faure und Peter Graf:
Worum geht es in Von den Nazis trennt mich eine Welt?
Peter Graf: Bis 1933 arbeitet Hermann Stresau als Bibliothekar in einer Berliner Stadtteilbibliothek. Unmittelbar nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wird er entlassen. Und obwohl seine Entlassung ihn und seine Frau in materielle Not stürzt, verweigert er sich den neuen Machthabern. Er beginnt Tagebuch zu schreiben und notiert, wie sich die Menschen unter dem Einfluss der Diktatur verändern. Aber Hermann Stresau ist nicht nur ein begnadeter Chronist des Alltags, sondern darüber hinaus ein dem Humanismus verpflichteter Intellektueller, der in der Lage ist, die gesellschaftlichen und politischen Folgen dieses Zivilisationsbruchs aufzuzeigen.
Wem könnte ein Buchhändler denn seine Tagebücher mit welchem Argument am besten verkaufen?
Ulrich Faure: Wer Stresau lesend durch die Jahre von 1933 bis 1945 begleitet, dem gewährt er nicht nur einen einzigartigen Blick auf die Zeitgeschichte.
Nicht nur … ?
Hermann Stresau ist auch ein ungemein verlässlicher und uneitler Beobachter und Erzähler und beantwortet anhand seines individuellen Schicksals auch die Frage, wie hätte ich mich damals womöglich selbst verhalten? Denn immer kreist seine Selbstbefragung auch um die Frage, was ist der Mensch? Was macht ihn aus?
Die Tagebücher sind 1948 erstmals gekürzt erschienen; hat der Autor damals etwas zurückhalten wollen?
Peter Graf: Die handschriftlich verfassten Tagebücher Hermann Stresaus werden im Literaturarchiv Marbach aufbewahrt.Vergleicht man sie mit der 1948 von ihm herausgegebenen Tagebuchausgabe fällt auf, dass er an keiner Stelle probiert, im Nachhinein klüger dazustehen, als er es im Augenblick der Niederschrift gewesen ist. Es gibt auch keine von ihm vorgenommenen Streichungen, um womöglich nach 1945 nicht mehr integere Aussagen zu tilgen. Aber Hermann Stresau ist Stilist. Er verändert mitunter Sätze oder ganze Passagen, um das, was er sagen möchte, auf den Punkt zu bringen. Und er streicht, was er für entbehrlich hält, und das sind zumeist Aufzeichnungen, die sein Privatleben betreffen.
Was macht Stresaus Aufzeichnungen so bedeutsam, dass man sie heute komplett (der zweite Band, der bis zum Kriegsende geht, erscheint im Herbst) veröffentlichen muss?
Peter Graf: Die Tagebücher Hermann Stresaus, die wie sein literarisches Werk heute nahezu vergessen sind, und auch bei Erscheinen eine nur überschaubare Leserschaft erreichten, legen die Zeit auf eindrucksvolle Weise frei. Sie machen sie in vielerlei Hinsicht erfahrbar und beschreiben den Alltag der Menschen in der sich konsolidierenden Diktatur und begleitet diese in dem nun vorliegenden ersten Band dieser Wiederveröffentlichung bis zum Beginn des Krieges und im zweiten Band bis zur Kapitulation und dem Einmarsch der Amerikaner in Göttingen, wo Stresau während des Krieges lebte. Hermann Stresau hat den Blick für die kleinen Dinge und spürt mit seismographischer Genauigkeit den zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Veränderungen und Stimmungen nach.
Sie sind, das spüre ich, davon überzeugt, dass seine Aufzeichnungen aus heutiger Sicht besonders wichtig sind.
Mehr als das, sie sind kostbar. Denn hier schreibt jemand aus einer Haltung heraus, die zwischen 1933 und 1945 nur sehr wenige in Deutschland für sich in Anspruch nehmen konnten, jemand, der sich den neuen Machthabern verweigerte und der die Folgen dieser Verweigerung bewusst auf sich nahm. Dennoch war Stresau weit entfernt davon, aktiv Widerstand geleistet zu haben. Er war kein Held, aber jemand, der auch durch seine Bescheidenheit und moralische Integrität in besonderer Weise als Vorbild taugt.
Was unterscheidet seine Aufzeichnungen von anderen Tagebüchern aus dieser Zeit?
Ulrich Faure: Innerhalb der Geschichtsschreibung nehmen Tagebücher eine bedeutende Rolle ein. Sie machen Zeitgeschichte im Augenblick erfahrbar. Auch die Jahre zwischen 1933 und 1945 sind in dieser Hinsicht gut dokumentiert, aber dennoch gibt es nichts, was sich mit den Aufzeichnungen Stresaus vergleichen lässt.
Große Worte …
Ja, denn in Von den Nazis trennt mich eine Welt lässt sich hautnah erfahren, was es wirklich bedeutete, sich in die innere Emigration zu begeben. Stresau setzt sich einerseits bewusst ins Abseits, weil er sich auch im Augenblick des Triumphs und der frühen Eroberungskriege nicht mit den Nazis gemein machen will, aber er teilt auch während des Bombenkriegs das Leid seiner Mitmenschen, trauert um die Menschen, die im Bombenhagel ihr Leben lassen und beklagt die Zerstörung zahlloser Städte. Stresau ist in seinem Urteil eindeutig, und fragt dennoch nach dem Schicksal des Einzelnen. Und diese Authentizität macht seine Tagebuchaufzeichnungen so bedeutend.
Wie sind Sie eigentlich darauf gestoßen?
Peter Graf: Das Tagebuch war so etwas wie das Hausbuch in der Familie des Exilwissenschaftlers Hans-Albert Walter und seiner Frau Adeline. Ulli Faure ist Walter in den letzten Jahren seines Lebens bei der Abfassung seiner großen Vorgeschichte des Exils ein wenig zur Hand gegangen und hat dabei von Stresaus Tagebuch erfahren.
Und wie kam es zu dieser gemeinsamen Herausgeberschaft?
Da wir beide ihn bis heute als Faulkner-Übersetzer schätzen, haben wir es uns genauer angesehen. Und waren uns schnell einig: Das muss neu aufgelegt werden. So hat es auch Tom Kraushaar, der Verleger von Klett-Cotta gesehen, der das Projekt sofort zum Spitzentitel in diesem Frühjahr gemacht hat.
Ulrich Faure: Bei der Besichtigung des Originaltagebuchs in Marbach stellte sich zudem heraus, dass Stresau nicht etwa der verhuschte Schreibtischgelehrte war, sondern ein ziemlich gut vernetzter Autor und Übersetzer, der mit Peter Suhrkamp gut bekannt war und mit Ernst Rowohlt in regem Kontakt stand. Auch war er befreundet mit den Nachlassverwalter von Lou Andreas-Salomé, Ernst „Noli“ Pfeiffer. Für Peter Graf und mich war es eine spannende Recherche, die fast täglich zu neuen Entdeckungen führte.
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank, dass Sie mit Ihrem Interview mit den Herausgebern Essentielles über Herkunft und Inhalt dieses Werkes der Aufklärung verbreiten.
Dem Klett-Verlag ist für dieses Buch zu danken. Wie gut, weil notwendig, wäre es, wenn es Eingang in den Geschichtsunterricht der Schulen finden würde.
Mit besten Leser-Grüssen,
rudolf schwinn, Journalist, Bonn-Castell.