Estelle Traxel (Hugendubel) und Andreas Meyer (Verlagsconsult) haben sich für ein ungewöhnliches Projekt zusammengetan: Warum, so ihre Frage, sind speziell Independent-Buchhandlungen in Corona-Zeiten so erfolgreich? Zusammen mit Studenten der Buchwissenschaft an der Ludwig Maximilians Universität (LMU) in München wollen sie nicht nur BuchändlerInnen, sondern auch VerlegerInnen befragen, was die Ursachen für den Höhenflug der Buchbranche mitten in der Krise sind. Für unser heutiges Sonntagsgespräch war das Anlass für Fragen an die Akteure nach den Hintergründen und Motiven des Projekts „Erfolgreich während Corona?!“.
Was war denn der Auslöser für das Projekt „Erfolgreich während Corona?!“
Andreas Meyer: Für mich war der große Aha-Moment, als eine Lehrerin in München eine Monatsmiete ihrer Lieblings-Stadtviertelbuchhandlung übernahm. Und sofort eine Website für Nachahmer an den Start brachte. Da dachte ich: Moment mal, hier gibt es eine enorme, von LeserInnen getriebene, Dynamik. Kurz danach hörte ich, dass einige der besonders engagierten Independent-BuchhändlerInnen während des ersten Lockdowns – als die Läden geschlossen waren – mehr Umsatz gemacht hatten als im Vorjahr. Wir hatten plötzlich neue HeldInnen. Die Independents haben der Buchbranche, pardon, den Arsch gerettet.
Estelle Traxel: Als Corona im Frühjahr auftauchte und wir im ersten Lockdown steckten, konnte man beobachten, dass sich vor allem die kleinen Buchhandlungen erstaunlich viel einfallen ließen. Sie fuhren plötzlich mit Fahrradkurieren aus, kommunizierten vermehrt über Social Kanäle. Meine beste Freundin, die auf dem Land wohnt, erzählte, dass ihre Buchhandlung Same Day Delivery anbot. Die Besitzerin brachte die Bücher höchstselbst mit dem Auto vorbei, gab an der Tür sogar noch Buchtipps und unterhielt sich mit ihr über die neuesten Krimis. Die sagenumwobene „Letzte Meile“, der Zusatz-Service bis vor die Haustür, der sonst von vielen als wünschenswert, aber nicht umsetzbar, abgetan wird, fand plötzlich statt.
Gleichzeitig gab es auch viel Unterstützung von Verbrauchern selbst.
Ja, Menschen,die plötzlich anfingen, die „Local First“ Fahne zu schwingen, obwohl sie vorher eher der Convenient-Typ waren. Ich fragte mich, ob diese ganze Dynamik nur dem Mitleids-Faktor geschuldet ist oder ob es sich lohnt, etwas tiefer zu graben. Andreas Meyer beschäftigten dieselben Fragen und so kam es zu dem Projekt „Erfolgreich während Corona?!“ mit der LMU.
Dass die Independents sich bereits in der ersten Lockdown-Phase so gut schlugen – haben Sie das erwartet?
Andreas Meyer: Ich habe zusammen mit Arnd Roszinsky-Terjung fünfzehn Jahre lang das Programm der Libri.Campus-Konferenzen gestalten dürfen. Wir haben irgendwann mal zusammengezählt: In diesen Jahren kamen insgesamt 5.000 unabhängige SortimenterInnen. Und da viele häufiger kamen, haben wir sie gut kennengelernt. Und schätzen gelernt. Deshalb hielt sich meine Überraschung, wie genial die lokalen Buchhandlungen bei Corona aufdrehten, in Grenzen. Denn ich traue den Independents in Sachen „kreative Initiativen“ sehr, sehr viel zu. Quatsch: alles.
Trotzdem noch mal nachgefragt: Wie sehen Sie den Stand der Independents in der Buchbranche?
Estelle Traxel: Ich glaube, dass die Independents ein großes Potential haben, wenn sie es denn nutzen. Der Trend geht seit Jahren stark zu online und inzwischen auch mobile. Was diese Kanäle bislang aber in Sachen Buch verpasst haben, ist authentische Spezialisierung und Individualität. Für Amazon sind Bücher mittlerweile Nebensache, was sich auch daran zeigt, dass sie während des Lockdowns gar nicht mehr geliefert haben. Das Gejammer „Gegen Amazon kommen wir nicht an“, akzeptiere ich so nicht und halte es auch für eine faule Ausrede, denn es gibt so viele Bereiche beim Buchverkauf, die Amazon nicht verfolgt.
Da sehen Sie also Chancen?
Ja. Der stationäre Handel muss sich überlegen, was er als Alternativkonzept bieten kann. Der Mensch ist nach wie vor ein soziales Wesen, das gerne raus geht, etwas erlebt. Der Handel sagt leider immer noch: „Bei mir können se auch Bücher kaufen, müssen sich halt nur selbst das Buch raussuchen, in der Schlange anstellen und noch zahlen, aber bitte bar, weil Karte nehmen wir nicht.“ Stattdessen muss der Handel dort ansetzen, wo Amazon scheitert: Den Menschen eine persönliche Erlebniswelt bieten.
Ist das so einfach, wie sich das anhört?
Natürlich nicht. Gleichzeitig halte ich eine kluge Verzahnung von stationär und online für unverzichtbar. Das Thema Spezialisierung kann man wunderbar auf die Social Kanäle übertragen und so mit seiner Community eng im Austausch bleiben.
Was heißt das nun wieder?
Man kann einen WhatsApp Service anbieten und den Kunden auf diesem Wege die Möglichkeit geben, individuell beraten zu werden. Ein großes Thema ist nach wie vor die Entdeckbarkeit: Wie findet man sich in dieser Unmenge an Büchern zurecht? Online erhalten Artikel, die Zahlen im Titel haben, die meisten Klicks. Das kann man auch stationär machen und einen Teil seiner Bücher nach Listen sortieren: z.B „Top 3 Bücher von Buchhändler XY“ oder „5 Lieblingsbücher von Autor XY“, „Die 5 Bücher, die Ihr Leben verändern werden“. Oder eben, wie wir es bei meiner besten Freundin gesehen haben, einen „Letzte Meile-Service“ anbieten.
Andreas Meyer: Ich hoffe, dass der große Erfolg der Independents nicht nur mich nachdenklich gemacht hat. Ich habe in den letzten Jahren – leider – speziell bei großen Verlagen hinter vorgehaltener Hand oft gehört: „Das bringt doch nichts, ein Drittel der kleinen Sortimenter wird es in drei Jahren nicht mehr geben, die Zukunft gehört Amazon“. Bei Nachfragen stellte sich meist heraus, dass man über die Strukturen und Leistungen – insbesondere über die Verbundgruppen – wenig bis nichts wusste.
Und haben sich etwas entfremdet – wenn sie vom Buchhandel reden, dann denken und meinen sie in der Regel nur die Einkäufer der Ketten.
Ich finde das äußerst bedenklich. Die – das ist vielen in der Branche nicht bewusst – auf Solidarität basierenden Strukturen, die dank Solidarität erstrittenen Privilegien, werden seit längerem ausgehöhlt. Im Kopf. Independents sind diejenigen, die die spezifische Leistung und Innovationskraft der Buchbranche repräsentieren – Buchhandlungen genauso wie Verlage.
Wenn Sie das aber als schon wissen –wie und warum kam es zu der Kooperation mit der LMU München?
Estelle Traxel: Corona hat vor allem bei lokalen Buchhändlern für eines gesorgt: sie konnten ihre Kunden aktivieren. Unsere These ist: sie verfügen über eine sehr starke Kundenbindung. Niemand in der Branche hätte speziell den unabhängigen Händlern diese Performance zugetraut. Die Pandemie schien als eine Art Katalysator zu funktionieren, aber bislang verstehen wir noch nicht die Details, die zu dieser Entwicklung beigetragen haben. Gemeinsam mit der LMU München möchten wir Ursachenforschung betreiben, die Zusammenhänge analysieren – und zwar so, dass daraus auch Rückschlüsse für die Zukunft gezogen werden können.
Andreas Meyer: Wir müssen uns klarmachen: Die Independents erreichen die Lese-Maniacs, die extremen Vielleser. Die Menschen, die ohne Bücher nicht leben können und wollen. Diejenigen, die Vorbild für andere sind. Wir wollen rausfinden: Wie und warum könnten Independents gerade diese anspruchsvollen Leser erreichen?
Sie suchen Buchhandlungen und Verlage, die während Corona besonders erfolgreich sind – und bereit für ein Interview mit StudentInnen. Kann man sich auch selbst bewerben?
Estelle Traxel: Ja, unbedingt, es kann sich jeder aus der Buchbranche bewerben, der vor und während Corona Konzepte erarbeitet hat, die zu einem höheren Umsatz und/oder zu einer stärkeren Kundenbindung geführt haben. Ob das nun Buchhändler, Verlage oder sonstige Stakeholder wie Bookstagrammer sind, uns ist jeder willkommen.
Warum die Zusammenarbeit mit Studenten?
Estelle Traxel: Die Studenten werden sich intensiv und wissenschaftlich mit den Konzepten und Leistungen erfolgreicher Player aus der Buchbranche beschäftigen und diese mit anderen Märkten wie Food, Mode oder Tech vergleichen. Wir glauben, dass der Blick von außen Innovationen fördert und die Möglichkeit eröffnet neue Methoden zu adaptieren. Bücher per Fahrradkurier auszufahren kennt man bisher eher aus der Food-Branche. Genauso haben sich aber Modehändler – noch weit vor Corona – in ihrer App-Usability von Instagram (einer Foto Community) inspirieren lassen. Die Studenten werden die Corona-bedingten Trends branchenübergreifend analysieren. Im Anschluss schauen wir, was sich als innovative Erfolgsfaktoren herauskristallisiert, und was sich aus anderen Branchen auf die Buchbranche übertragen lässt.
Wem nutzt das etwas?
Estelle Traxel: Jedem, der sich nicht mit dem jetzigen Status quo abfinden, sondern sich weiterentwickeln und offen für Neues sein möchte. Wir stellen übrigens eine Verbindung zum SALES AWARD her und machen die Highlights der Jury zugänglich. Der SALES AWARD wird die besten Konzepte in verschiedenen Kategorien auszeichnen und die Ergebnisse werden auf bookafuture.de, der Buchbranche und allen, die sich dafür interessieren, zur Verfügung gestellt. Wie die Resultate interpretiert und integriert werden, bleibt selbstverständlich jedem selbst überlassen. Aber wir bieten kostenlos einen tiefen Einblick in Praktiker-Innovationen, einen Service, für den man normalerweise sehr viel Geld bezahlen muss.
Eine spannende Konstellation. Wer ist noch dabei?
Andreas Meyer: Wir bieten den StudentInnen ein besonderes Praktiker-Betreuungsteam: Neben Estelle Traxel und mir, sind das Anniko Güte (im Vertrieb bei Loewe) und Christoph Honig als Buchhandelsberater. Und wir haben Partner im Boot: Börsenblatt und BuchMarkt für die Kommunikation, eBuch und Libri als Unterstützung bei der Auswahl der Buchhandlungen.
Warum gibt es denn die Verbindung zum SALES AWARD?
Andreas Meyer: Der SALES AWARD, vor 17 Jahren vom BuchmarktFORUM ins Leben gerufen, besticht im Branchenvergleich durch seinen Anspruch: ausgezeichnet wird nicht die Quantität, wie z.B. die „goldene Schallplatte“ in der Musikindustrie, sondern innovative verkäuferische Konzepte. Entscheidendes Kriterium ist: werden neue Leser erreicht, werden neue Kanäle erschlossen? Die Corona-Erfolge der Buchbranche zeigen: Im Branchenvergleich haben wir uns nicht gut, sondern spitzenmäßig geschlagen.
Wird die Resonanz auf die besonderen verkäuferischen Leistungen dieses Jahres wieder nur digital erfolgen?
Andreas Meyer: Gute Frage. Die Verleihung des SALES AWARD auf der Leipziger Buchmesse hat immer einen besonderen Anspruch: Es ist eine Veranstaltung mit Aha-Effekten. Der Anspruch lautet: verstehen, wie Preisträger und Nominierte ihre außergewöhnlichen Konzepte entwickelt haben. Und der Anspruch ist: sich gegenseitig kennenlernen, nachfragen. Den SALES AWARD 2019 haben wir mit Unterstützung der Leipziger Buchmesse digital und mit pointierten Interviews präsentiert. Eine spannende Übung. Ich hoffe sehr, dass wir zusammen mit der Leipziger Buchmesse im Mai 2021 uns wieder live vor Ort treffen können.
Sie haben sich mit dem Thema „Buchbranche und Corona“ inzwischen schon intensiver auseinandergesetzt. Hat die Branche das Beste aus ihren Chancen gemacht?
Estelle Traxel: Nein, da ist definitiv noch Luft nach oben. Ich glaube auch, dass man differenzieren muss zwischen den einzelnen Branchenmitgliedern. Manche, wie die Independents, haben ihre Arbeit zum Teil wirklich gut gemacht, haben kreativ und unkonventionell gedacht. Andere sind in eine Art Schockstarre verfallen und sind eher nach dem Prinzip „Jetzt machen wir erst mal nichts und dann warten wir ab.“ verfahren. Mein Lieblingsbeispiel war die Aussage der Frankfurter Buchmesse, dass die Messe trotz Corona physisch stattfinden soll. Da dachte ich, ich träume.
Andreas Meyer: Mal ganz ehrlich? Nein. Eine Schrecksekunde im Frühjahr: gut. Letztlich ist die Corona-Zeit ein gutes Beispiel dafür, wie schlecht die Buchbranche ihre Zielgruppen kennt. Man hat seine eigenen LeserInnen und KäuferInnen stark unterschätzt. Und man hat an die eigene Leistungsfähigkeit, ach: Begeisterungsfähigkeit, nicht geglaubt. Karin Schmidt-Friedrichs sagte zur Buchmessen-Eröffnung: „Diese Branche hat sich – gemessen an unser aller Befürchtungen – während Lockdown und weiteren pandemiebedingten Restriktionen erstaunlich resilient gezeigt.” Das ist nicht zu ängstlich, zu defensiv, sondern zeigt: Die Funktion der Buchbranche ist nicht klar. Als Buchhandelshistoriker kann ich hinzufügen: Ein Blick zurück hätte gezeigt, dass Bücher in allen großen Krisen, ja auch den Kriegen, für die Menschen außerordentlich wichtig waren.
Sie dürfen hier einen Wunsch äußern: was wünschen Sie der Buchbranche in den Jahren nach Corona?
Estelle Traxel: Ich wünsche mir mehr Mut und Experimentierfreude, mehr Fehlertoleranz und die Bereitschaft, auch scheitern zu dürfen. Denn nur so kann man Neues ausprobieren, nur so entstehen neue, kreative Konzepte. Ich hoffe, dass ich mit meinem Podcast bookafuture, den ich gemeinsam mit meiner Kollegin Franziska Hansel ins Leben gerufen habe, etwas dazu beitragen kann. Schade fände ich, wenn alle neuen, frischen Start up Ideen nach wie vor von Menschen außerhalb der Buchbranche kämen. Damit würde uns etwas Existentielles verloren gehen: das Buch als Kulturgut, das schützenswert ist und gefördert werden muss – unabhängig von blanken Verkaufszahlen. Das heißt im Umkehrschluss nicht, dass man sich nicht für neue Konzepte öffnen und in seinen altbekannten Strukturen verharren soll. Denn die Welt dreht sich weiter, und zwar von Tag zu Tag schneller. Ich hoffe, dass die Buchbranche nicht aus der Bahn geworfen wird und bereit ist, kulturbewusst u n d innovativ zu denken.
Andreas Meyer: Eine proaktive Besinnung auf die eigenen Stärken: der eigentliche USP der Buchbranche sind die LeserInnen. Eine These, die ich seit vielen Jahren vertrete, lautet, dass noch nie so viel geschrieben, noch sie so viel gelesen wurde wie heute. Diese These bekommt plötzlich eine neue Dynamik. Klar geht es erst mal um „Digitales Lesen und Schreiben“, aber inzwischen konstatieren Forscher wie Gerhard Lauer, dass gerade bei den Jüngeren die Affinität zu Büchern stark wächst. Und, was wir immer wieder aus dem Blick verlieren: Kinder und Jugendliche lesen laut der JIM-Studie 2020 im CORONA-Jahr im Schnitt sogar 20 Minuten mehr, stand am 08.12.20 bei Börsenblatt-Online. Sinngemäß wurde das Resümee gezogen: Das Lesen von Gedrucktem bleibt fester Bestandteil des Medienalltags von Jugendlichen. Ich finde das genial.
Und was sollte auf keinen Fall passieren?
Estelle Traxel: Dass nach Corona alles wieder so wird wie bisher. Corona, so schlimm die Pandemie auch ist, birgt enorme Potentiale: die Uhren auf null zu stellen und Dinge neu zu denken – jenseits von festen Bahnen.
Andreas Meyer: Ich gebe es offen zu, ich hasse den selbstverliebten, selbstreferentiellen Kulturpessimismus der Buchbranche. Diese mentale Selbstverhinderung der eigenen Arbeit – Schluss damit.
Die Fragen stellte Christian von Zittwitz
SALES AWARD 2020:
Nominieren Sie jetzt Kandidaten für das Projekt „Erfolgreich während Corona?!“ und für den SALES AWARD Award 2020, den Preis für außergewöhnliche verkäuferische Konzepte in den Kategorien „Innovation“, „Hauptpreis Sortiment“ und „Hauptpreis Verlag“. Eine kurze Begründung per Mail: bestoflockdown@salesaward.de genügt, selbstverständlich können Sie sich selbst bewerben.
Einsendeschluss ist der 31.12.20:
Was wird gesucht: Ihre Best-of-Corona Aktionen für überragende Kundenloyalität – und ihren Erfolg. Geben Sie ihr Lockdown-Geheimnis preis und machen Sie mit…
Preis-Kategorien: Innovation, Hauptpreis Sortiment, Hauptpreis Verlag
Bewerbungen an: bestoflockdown@salesaward.de oder eickelschulte@buchhandel-bayern.de
Einsendeschluss: 31.12.2020
Mehr Infos: SALES AWARD: Verleihung: Leipziger Buchmesse 2021
Der SALES AWARD, heute einer der wichtigsten Vermarktungs-Preise der Buchbranche, wurde 2003 erstmalig vom BUCHMARKTFORUM verliehen. Der Preis zeichnet außergewöhnliche verkäuferische Leistungen von Buchhandlungen oder Verlagen aus, die explizit Endkunden bzw. LeserInnen im Visier haben sowie dem Aspekt der „Einzigartigkeit“ entsprechen.