LIEBE FREUNDE,
zum Eröffnungstag der Buchmesse hatte ich mir einen Frühstückstermin beim Vielflieger-Verlag eingerichtet.
Felix Busse, der stets einfallsreiche und inspirierte Kleinverleger mit Hang zu Geschmack, Kinderbüchern und Künstlern aus fernen Ländern, hat zu Kaffee und Kuchen eingeladen, und Sie wissen ja, dass Kaffee und Kuchen bei mir absolut als Frühstück durchgehen.
Im Vielflieger-Verlag gibt es natürlich wieder ein neues Kinderbuch: Das Ungeheuer von Calomel, und auch dieses wieder märchenhaft und außergewöhnlich.
Tatsächlich gibt es eine EC-Cash-App mit aufsteckbarem Kartenschlitz.
Aber deswegen war ich ja gar nicht hier.
Ich würde es ja als Junggesellentiramisu bezeichnen (Löffelbiskuit mit Schnaps), aber Busse schwört, dass das Rezept ein Rezept sei.
Nun zum Vielflieger-Kaffee:
Herr Busse ist im Nebenberuf Flugbegleiter, also ist er physiologisch in der Lage, alle heftigen Plörren aus aller Herren Länder zu wohlschmecken. Insofern kocht er seinen deutschen Kaffee stark, voll und bitter. Denn was Herr Busse macht, macht er ordentlich. Sobald mein Zucken aufhört, werde ich weitere Kaffees auch anderer Verlage testen.
DAS GUTSCHEINHEFT
Solchermaßen gerüstet nahm ich mir für Mittwoch eine besondere Aufgabe vor: Ich habe das Gutscheinheft des Börsenvereins abgefrühstückt. Jeder Buchhändler hat auch dieses Jahr zu seinen Messekarten und dem Kilo unnötigen Papiers wieder ein Gutscheinheft bekommen, mit dem Messegäste bei teilnehmenden Verlagen kleine Gaben oder Leistungen einlösen können.
Als da wären:
…Moment. Arena hatte doch gar keinen Gutschein in diesem Heft!
Die ziehe ich jetzt erst recht an.
Bei utb konnte man entweder etwas gewinnen oder etwas gewinnen. Gut, nicht?
Und gewonnen habe ich: ein Notizbuch!
Und mehr habe ich heute nicht hinbekommen. Sind ja noch ein paar Tage.
AUF DER AGORA
Weil ich nach diesem Parcours etwas frische Luft brauchen kann, gehe ich auf der Agora eine Zigarette rauchen. Und natürlich mir die Agora ansehen. Die Agora ist alles, wo keine Messehalle draufsteht.
Zuallererst rührt leichter Grusel mich an wegen eines Werbemotivs, denn der süße Bär Paddington ist plötzlich ein echter Bär geworden, so richtig mit echten Pixeln anstatt Fell, also noch viel echter als ein echter Bär.
Da lobe ich mir doch die Hinwendung zur klassischen Schaustellerkunst, wo sich Kasper, Seppel und der Räuber gegenseitig ordentlich totschlagen.
Aber den digitalen Aspekt hat ja Samsung mit seiner Zauberkabine abgedeckt. Hier kann man sich umspritzen lassen. Huch, nein, ich meine natürlich einfrieren.
Aber um den technologischen Overkill ein wenig abzufedern, bietet Samsung Fahrradshuttles an! Anstatt mit den Hallenbussen kann man sich im Fahrrad herumfahren lassen!
Nein, das geht natürlich nicht. Technisch nicht und auch grundsätzlich nicht. Selbst Ken Follett muss hier zu Fuß sitzen.
Das Iglu, das ich gestrig zum Abschluss abbildete [mehr…], war in Wahrheit kein Iglu, sondern eine kleine, stinkende Duftkuppel vom Damenzubehöranbieter Weleda! Bitte beachten Sie auch die Angebote unserer Partner!
Die Damen, die nicht im Weleda-Zelt verschwinden, gehen zum Ausstellungswagen von SIGMA: Dort können Sie mit Monsterobjektiven ausmachen, welche Frau in Stöckelschuhen laufen kann und welche gar nicht.
Zwei weitere neue Attraktionen sind das neue Lesezelt und der Muminbus. Wenn Sie eben „Mumienbus“ gelesen haben, geht es Ihnen wie mir. Interessanterweise sieht das neue Lesezelt ziemlich genau aus wie das alte, nur eben in neu. Entweder wurde es nach den alten Plänen angefertigt, oder es ist das Standardmodell des Buchmessenlesezeltanbieters.
Auf der Bühne wird gerade über den Kult um die Serie „Tatort“ gesprochen, um jenen Kult auch weiterhin zu befeuern und vor allem zu beliefern.
Und was um Himmels Willen ist das? Ein Riesensprung im nagelneuen Lesezeltfenster, das gerade mal seit einem Tag benutzt wird? Darf denn das wahr sein?
Aber in einem Punkt kann ich sie beruhigen: Der Holzfußboden knarzt immer noch schön laut und knarzig. Wahrscheinlich eine Spezialanfertigung.
Ebenfalls eine Spezialanfertigung ist dieser wundervolle Muminbus, den uns die Finnen mal eine Woche lang im Hof parken, damit wir sehen, wie so was geht.
Also nicht direkt Kita, aber der Bus ist innen ausgestattet mit Regalen, Sitzebenen, Unterhaltungs- und Lernelektronik, Spielen, Kuscheltieren, Büchern und Leseecken. Kitas, Schulen, Kindergärten können diesen Bus anmieten oder anfordern.
Und dann kommt er.
MEIN GANG DURCH DIE HALLEN
Weil mein Donnerstag fleißig genug sein wird, wollte ich am Mittwoch gerne mal ein Viertel Stündchen lang einfach nur dasitzen. Dora Heldt wollte das auch, und so teilten wir eine Weile der Ruhe, des Kaffees und des Einvernehmens.
Erstaunlich: Nachdem Kein & Aber in den letzten Jahren das Wohnzimmer neu erfunden hat, wird dieses Jahr schon wieder ein Stand präsentiert, der ein Hingucker ist:
Erhellend: Nachdem wir uns mit Timur Vermes ein wenig vom historischen Tabu Hitler entfernt haben, öffnet sich auch der Markt weiter:
Grandiose Aussicht hatte ich auf dem Dach des Loewe-Verlages auf die ganze Halle Drei, die vor mir lag.
Wenn man hingegen schauen will, wo der vielfach gescholtene Kollege Amazon seine Abteilungen untergebracht hat, so muss man in den verborgeneren, weniger publikumsträchtigen Teilen der Messe suchen.
Die Amazon-Schilder sind jeweils schön klein. Lesbar, aber vorsichtshalber optisch nicht allzu laut. Vielleicht ist es Dezenz im Revier des Gegners, vielleicht sind wir denen aber auch einfach nur sehr egal.
Ganz anders zum Beispiel sind die herzlichen Kollegen von Scientology! Für Dezenz besteht gar kein Grund! Wir hassen Amazon so sehr, dass Scientology plötzlich gar nicht mehr so schlimm ist. Wir hassen Amazon so sehr, dass Scientology theoretisch auch als sagen wir mal Pirat verkleidet auf die Buchmesse gehen könnte, und nobody cares.
Natürlich hat auch meine allhalbjährliche Rindswurst aus dem Odenwald ihren Auftritt. Der Medienservice XXL hat allerdings seine schicke Lounge noch erweitert um eine stimmige Bar, die außerdem hervorragend bestückt und bewirtet ist. Damit ist auf die neuen, zusätzlichen Genussbücher hingewiesen.
Die beiden sehen auch aus, als kämen sie gerade aus der Bar. Dieses Foto ist auf so schöne Weise misslungen, dass ich es gerne zeige. Es handelt sich um den BuchMarkt-Chefredakteur Christian von Zittwitz mit einem Finger im Gesichtsfeld.
Reiner Zufall war es, dass ich Viktor Staudt kennenlernen durfte! Der Holländer hat seine Geschichte und Erfahrungen bei Droemer Knaur verlegt und ist im Moment geradezu auf Medienreise. Sie haben gewiss von ihm gehört: Er litt an Depressionen, warf sich vor den Zug, aber statt des gewünschten Ergebnisses hatte er nun plötzlich doppelt so viele Probleme, denn er verlor beide Beine, nicht aber sein Leben.
Davon aber erholte er sich (also von Unfall und Depression) und versucht seitdem, durch Teilen seiner Erfahrungen – die trotz allem in Heilung und Stärkung endeten – andere vor einem solchen Schritt zu bewahren.
Ich weise übrigens nochmals darauf hin, dass das Buch „Vorsicht, der Teller ist heiß – Phrasen für alle Lebenslagen“ von Philippe Delerm und erschienen Dank der Mühe der Verlegerin Lisette Buchholz im persona verlag sehr, sehr, sehr lesenswert, klug und lustig ist!
All das! Wer die feinen Glossen von Joseph von Westphalen mochte, kriegt hier Substanz und Feinsinn geboten.
Oh, Apropos: Gutes Stichwort, denn beim Fotoshooting mit dem alten Kanzler mangelte es an beidem.
DR. HELMUT KOHL
Das ist ja aber auch eine Geschichte: Da karrt man den armen, alten Uraltkanzler extra auf diese hektische Messe und lässt einen Pulk drängelnder, balgender Journalisten auf ihn los, damit er von dem strittigen Kohlbuch bei Heyne ablenkt, indem er für sein eigenes altes Kohlbuch einfach neue Werbung macht. Die anwesende Hundertschaft von Journalisten war geradezu unangenehm berührt von diesem schmerzhaften und durchschaubaren Auftritt, der diesen gebrochenen Mann sichtlich überforderte.
Schon ganze zwei Stunden vor dem Eintreffen von Dr. Kohl sichern die ersten zehn, zwanzig Journalisten sich ihre Plätze. Das ließ darauf schließen, was bald hier los sein würde.
Aber kommen wir lieber vom unrühmlichen zum rühmlichen Abschied.
REINHOLD „RINALDO“ JOPPICH,
die linkskrustige Literaturvertriebslegende des Verlages Kiepenheuer & Witsch, begeht seine letzte Messe! Oder sagen wir lieber: Seine letzte in diesem Posten. Aber ein Abschied ist ein Abschied, und Reinhold Rinaldo Joppich ist ein extrem beliebter Mann.
Um meinen Zug zu bekommen, musste ich den Empfang verlassen, als alle noch nüchtern, angezogen und sauber waren, deshalb steige ich nicht an der ungünstigsten Stelle aus dieser Happy Sad Hour aus.
Auf dem Rausweg sehe ich, dass man anscheinend am BuchMarktstand nicht unwesentlich vorgeglüht hat.
Ich wünsche Ihnen und mir einen guten Donnerstag!
Ihr und Euer
Matthias Mayer
Orte, die auf gar keinen Fall zu Skandinavien gehören, Teil 2 von 6: