Auf Platz 2: Marseille 73 von Dominique Manotti (original 2020: Marseille.73)
In ihrem elften Kriminalroman geht Dominique Manotti, 1942 in Paris geboren und immer noch dort, wieder zurück an die Anfänge ihre Serienhelden Théo Daquin, ins Jahr 1973. Dort hat der junge Kriminalkommissar bereits erfolgreich den Mord an einem Unternehmer aufgeklärt, der in dubiose Erdölgeschäfte verwickelt war ( Schwarzes Gold, 2016).
Daquin gilt unter den Bullen von Marseille immer noch als der schnöselige Pariser, der von den Marseiller Umgangsformen und Netzwerken nichts versteht. Nur mit Hilfe seiner beiden Inspektoren, von denen einer über den „dicken Marcel“ Kontakte zur Police Urbaine hat, kann er mit Kaltblütigkeit und Mut den Fall des 16-jährigen Berufsschülers Malek aus einer Familie algerischer Einwanderer aufklären, der offensichtlich aus rassistischen Motiven auf offener Straße niedergeschossen wurde. Nur allzu bald wird deutlich, dass sich in der Polizei von Marseille planmäßig eine Zelle von rassistischen Polizisten gebildet hat, die Kontakte zu revisionistischen Pieds-Noirs-Organisationen unterhält, zu Franzosen, die in Algerien die Kolonialherren spielen durften und jetzt, elf Jahre nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonie auf Rache sinnen, auf Rache an den Immigranten aus dem Maghreb, die gerade per Erlass zu Illegalen erklärt wurden.
Wie immer ordnet Manotti mit zitierten Artikeln und anderen Dokumenten das brodelnde Klima ein, in einem Nachwort erinnert sie an die mindestens 15 Opfer rassistischer Hassmorde allein in Marseille. Ein Glossar erleichtert die Orientierung.
Bestürzend für deutsche Leser, die die früheren Wogen rassistischer Gewalt in Deutschland vielleicht schon vergessen haben: Alles, was 1973 geschah und von Dominique Manotti in diesem beinahe dokumentarischen Kriminalroman rekonstruiert wird, sind Muster, mit denen wir aktuell konfrontiert sind: Zellen innerhalb der Polizei, eine Regierung, die den systematischen Charakter rassistischer Morde leugnet, geschlossene soziale Milieus, die sich in Ausländer- und Rassenhass suhlen, bis sie zur Gewalt greifen.
Mit anderen Worten: Ein historischer Kriminalroman von brennender Aktualität.Anekdote am Rande: In der geschickten, politisch weitsichtigen Aktivistin Marilou, die die verzweifelten und wütenden maghrebinischen Arbeiter zu organisieren versucht, porträtiert Dominique Manotti ein wenig sich selbst. 1982 hat sie, als einzige Frau unter hunderten arabischen und türkischen Männern und als Organisatorin der Gewerkschaft CFDT einen Streik von Arbeitern ohne gültige Papiere gegen die Ausbeutung durch die Pariser Modelabels organisiert, Erfahrungen, die sie in ihrem ersten Kriminalroman Sombre Sentier 1995 verdichtet hat. Die deutsche Ausgabe, darin übrigens der erste Auftritt von Théo Daquin, ist 2004 als Hartes Pflaster in der Assoziation A erschienen (immer noch lieferbar!). Hier erklärt Dominique Manotti mit deutschen Untertiteln den historischen Hintergrund von Marseille 73.
Ich empfehle Sylvia Staudes detailreiche Rezension in der Frankfurter Rundschau.
Auf Platz 4: Real Tigers von Mick Herron (original 2017: Real Tigers)
Eine kluge Rezensentin bemerkte: Bei Mick Herron geht es nicht um gut und böse, sondern ausschließlich um oben und unten. Besonders in Real Tigers, dem (nach einer zwischengeschobenen Novella) dritten Band seiner Serie um das Slough House, das aber von jedermann der Einfachheit halber die „Jackson-Lamb-Serie“ genannt wird. Wobei nichts bei Herron einfach ist. Sondern es scheint nur so.
Im „Sumpf-Haus“ vulgo Drecksloch werden unter dem Kommando des abgehalfterten Feldagenten Jackson Lamb (ein Rüpel, Furzer, Chauvi, Drecksack vor dem Herrn) diejenigen Agenten des Secret Service mit sinnlosen Arbeiten scheinbeschäftigt, die man dadurch zur Kündigung bewegen will. Trotzdem träumen sie davon, doch wieder im Park, dem Sitz des Service, zugelassen zu werden, weshalb sie fatal zu Heldentaten neigen. Catherine Standish, Lambs Assistentin, ohne die er nicht mal seine stinkenden Socken finden kann, wird von ihrem ehemaligen Liebhaber entführt. Während die trockene Alkoholikerin in ländlicher Gefangenschaft gegen ihre Dämonen kämpft, erpresst ein „Tiger-Team“ ihre als „Slow Horses“ verunglimpften Kollegen dazu, ins Allerheiligste des Service, das Archiv, einzubrechen, um dort eine Akte zu entwenden. Eigentlich ist diese Aktion als Test auf die Widerstandskraft des Service geplant, bei dem das Test-Team (die „Tiger“) durchaus sein Leben opfern darf. Aber die Tiger entpuppen sich als reale. Was sie aber auch nicht wissen: Sie sind der Einsatz in einer Intrige um die Macht im Service zwischen beiden Direktorinnen, in der auch der neue Innenminister Peter Judd (eine vergnügliche Karikatur auf Boris Johnson) ein Röllchen spielt.
All das ist unglaublich anspielungs- und wendungsreich inszeniert: große Satire auf die Upper Class und ihr Lieblingsspielzeug, das Empire, das hier nur noch im Modellbaukastenformat des Park chargiert.
Kurz: Herrons frech lästernde Spy-Serie verhält sich zu John le Carrés moralischen Geheimdienst-Intrigen wie Monty Pythons „Das Leben des Brian“ zum Neuen Testament.
Ein Genuss, besonders für Freundinnen und Freunde des bluttriefenden britischen Humors.
„Das ist kurzweilig, actionreich, leidlich spannend und dank Herrons trockenem Humor vor allem auch komisch und unterhaltsam.“ Hanspeter Eggenberger (Tages-Anzeiger)
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Auf Platz 9: Love&Bulletts von Nick Kolakowski (original 2017/18/19: A Love & Bullets Hookup)
Es sind die Hinterhöfe der USA (jedenfalls vom Trump Tower aus betrachtet), in denen Nick Kolakowskis in einem Band zusammengefasste Trilogie Love&Bulletts spielt: In einem Kaff in Oklahoma, in einem anderen Kaff in Nicaragua, in Havanna und abschließend in Brooklyn und Queens. Bill, der sich nur in handgenähten Schuhen und mit seiner Patek wohlfühlt, hat dem Rockaway Mob und dessen psychopathischen Chef Dean (=Dekan) ein paar Millionen geklaut. Bei einem Stop in Oklahoma wird er von verhungerten Hinterwäldlern ausgeknockt, die seit Generationen die nicht mehr eintreffende Stütze durch Raubüberfälle kompensieren. Seine Mörder sind seine Retter: seine Geliebte Casey und der Hitman, der ebenfalls auf ihn angesetzt ist. Der muss in ein Elvis-Kostüm steigen, um als Superheld Scharen von Rednecks umzulegen – für die Liebe.
Der 1980 geborene New Yorker Nick Kolakowski debütiert auf dem deutschen Markt mit einem schrillen Mash aus dreifach verdrehten Krimi-Stereotypen und knalligen Einfällen. Was wie ein Jack-Reacher-Setting beginnt, hat nach einigen karibischen Zwischeneinlagen seinen Höhepunkt, als ein anderer auf Bill angesetzter Killer von diesem in und mittels eines Tesla geköpft wird, worauf der Tesla im autonomen Modus mit dem Kopflosen auf dem Fahrersitz weiter dem Navi Richtung Union Square folgt.
Kolakowski macht Spaß.
„Love & Bullets ist eine crazy Höllenfahrt, die alles hat, was wir uns von einem Krimi wünschen: verrückte Ideen, Spannung, schwarzen Humor, Action, Gewalt, Leidenschaft – und all dies immer mit einem wachen Blick auf die Welt, in der wir leben.“ Hanspeter Eggenberger (Tages-Anzeiger)
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Auf Platz 10: King Zeno von Nathaniel Rich (original 2018: King Zeno)
Während Nick Kolakowski mit Krimimustern groteske Wirbel veranstaltet, scheint der gleichaltrige, ebenfalls 1980 geborene Nathaniel Rich alle Groß-Themen des 20. und 21. Jahrhunderts in seinem Roman über das New Orleans der Jahre 1918/19 zumindest mal anteasern zu wollen: die Ökologie, die Klassenfrage, den Rassismus, die Pandemie. Letztere ist ihm wie alles andere nicht zufällig unterlaufen: Im New Orleans dieser Jahre wütete nicht nur ein Axtmörder (der – Rassismus ist kein Erkenntnisinstrument – natürlich unter der Schwarzen Bevölkerung vermutet wird), sondern auch die Spanische Grippe. Dass der ermittelnde Polizist traumatisierter Weltkriegsveteran ist, dass dem Neubau eines Binnenhafens, der dem Big Easy Anschluss an die Globalisierung verschaffen und einer italienischstämmigen Mafiapatin den Aufstieg ins Bürgertum ebnen soll, ein Urwald geopfert wird – der metaphorischen Bezüge sind viele. Nimmt man alle diese auf die Anerkennung als Great American Novel zielenden literarischen Klimmzüge weg, entpuppt King Zeno sich als angenehm mit Lokal- und Zeitkolorit ausstaffiertes Panorama einer Stadt und ihren finsteren Seiten. Die Stadt und viele in ihr wollen Größeres, ganz Großes, ja, die göttliche Ekstase eines unerhörten Kornett-Solos. Und zum Schluss ist es der schwarze Musiker Isadore Zeno, der über Mord, Zeit und Vergänglichkeit triumphiert.
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Unsere Dauerchampions: Zum vierten Mal steht Garry Disher mit Hope Hill Drive auf der Krimibestenliste. Zum dritten Mal sind Un-su Kim mit Heißes Blut und Joachim B. Schmidt mit Kalmann dabei.
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Ich wünsche Ihnen wie immer viel Anregung und Vergnügen bei der Lektüre und würde mich freuen, wenn Sie unsere Bestenliste weiterempfehlen könnten. Wenn Sie sich weiter auf dem laufenden halten wollen, empfehle ich Ihnen die Krimiseite von Deutschlandfunk Kultur oder ein BenachrichtigungsAbo meiner Homepage.
Eine Bemerkung in eigener Sache:
Mit der aktuellen Krimibestenliste Dezember hat die Frankfurter Allgemeine die Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur bei der Herausgabe der Krimibestenliste sehr kurzfristig aufgekündigt.
Das hat zur Folge, dass die Krimibestenliste nurmehr vom Deutschlandfunk Kultur allein weiter herausgegeben wird. Die nächste Krimibestenliste wird Anfang Januar veröffentlicht werden.
Das Vergnügen, Ihnen monatlich diesen Newsletter zu schreiben und zuzusenden, ist leider nicht mehr finanzierbar. Ich werde den Newsletter der Krimibestenliste daher nicht mehr weiter fortführen.
Ein PDF der Krimibestenliste wird – in welcher Gestalt genau muss noch erarbeitet werden – auch in Zukunft sicher hier von meiner Homepage heruntergeladen werden können.
Auf meiner Homepage biete ich Abonnenten auch eine kostenlose Benachrichtigung über neue Beiträge per E-Mail an (also auch der neuen Krimibestenliste). Sie müssen sich nur einmal anmelden. Sie müssen also auf die Krimibestenliste nicht verzichten.
Tobias Gohlis
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