Veranstaltungen Shortlist-Lesung in Frankfurt

Gestern Abend fand im Literaturhaus Frankfurt die Shortlist-Lesung zum 13. Deutschen Buchpreis statt. Hauke Hückstädt, Leiter des Hauses, begrüßte die Gäste zur ausverkauften Veranstaltung, einer Kooperation des Kulturamtes Frankfurt am Main und des Literaturhauses. Partner ist die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung.

Hückstädt gab am Vorabend der Bundestagswahl eine Empfehlung: Es gehe um Teilen statt um Teilung, um Widerspruch statt Anspruch, um Differenzierung statt Anpassung.

Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig bemerkte, dass die Auszeichnung, auf der Shortlist zu stehen, auch Strapazen bedeute. Neu sei 2017, dass die Entscheidung der Jury nicht kritisiert wurde. Von einer Krise des Buches, die „ein altes Lied“ sei, spüre sie nichts. Vielleicht jedoch handele es sich um eine Krise des Lesens. Während im 18. und 19. Jahrhundert (vor allem für Frauen) Zeit zum Lesen übrig war, habe sich das gewandelt. Der rappelvolle Saal sei allerdings ein Zeichen dafür, dass die Neugier auf neue Bücher stark sei.

Alexander Skipis, Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, nannte den Abend einen „Genuss, den es sonst so nicht gibt“. Mit einem Seitenhieb auf einen Artikel (Ist das Buch am Ende?) von Sandra Kegel in der FAZ eingehend, sagte Skipis: „Der Deutsche Buchpreis ist keine weitere grenzdebile Castingshow, sondern lenkt die Aufmerksamkeit auf neue deutschsprachige Romane.“ Er lobte die Arbeit von Verlegern und Buchhändlern, die von ihrer Tätigkeit „besessen“ seien und „Inhalte an die Leser“ bringen wollten. Qualität und Vielfalt spielten im zweitgrößten Buchmarkt der Welt eine besondere Rolle.

In den letzten Jahren sei trotz des medialen Umbruchs der Umsatz in der Buchbranche in etwa gehalten worden. „Dennoch vollzieht sich ein schmerzhafter Konsolidierungsprozess in der Branche“, merkte Skipis an.

Franzobel und Sandra Kegel starteten die Shortlist-Runde, zu der ein Autor – Gerhard Falkner – fehlte. Franzobel, unter anderem 1995 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, ist in unterschiedlichen Genres unterwegs. Auf den Künstlernamen angesprochen, den er einmal in einem Interview von einer Fußballübertragung aufgrund der Bildmarke FRAN 2:0 BEL ableitete, sagte er: „Ich werde immer danach gefragt. Aber das ist eine Legende.“

Sein Buch Das Floß der Medusa, erschienen im Paul Zolnay Verlag, trägt auf dem Cover einen Ausschnitt aus dem berühmten Gemälde gleichen Namens von Théodore Géricault, entstanden 1819. Der Roman handelt von einer wahren Begebenheit; ein unfähiger Kapitän ist für die große Schiffskatastrophe der Fregatte Méduse 1816 verantwortlich, bei der Hunderte Menschen starben. Die Fehler des Kapitäns sollten vertuscht werden. Eine Passage aus dem Buch folgte.

Dem Stoff begegnete Franzobel zum ersten Mal bei Asterix und auf einem Plattencover von The Pogues. „Ursprünglich sollte es ein Roman im romantischen Stil werden. Aber das erschien mir wie eine Sprachmaske“, sagte der Autor. Viel Recherche stecke in dem Buch. „Und wohl die erste literarische Klistierszene“, merkte der Autor scherzhaft an und fügte ernst hinzu: „Ich habe versucht, eng an der Geschichte zu bleiben.“ Beim Schreiben habe er sich gefühlt, als ob er selbst auf dem Floß wäre. „Ich weiß manchmal selbst nicht mehr, was historisch ist und was erfunden.“ Ein Leben habe damals nicht viel gegolten. Man könne erkennen, dass die Menschheit in den letzten 200 Jahren doch eine Entwicklung durchgemacht habe. Drei Jahre habe Franzobel an dem Buch gearbeitet: „Abstand zu finden war schwierig.“

Natürlich könne man Verbindungen zur Gegenwart herstellen; nur waren die damaligen Schiffbrüchigen eben Europäer vor der afrikanischen Küste.

In der zweiten Runde unterhielten sich Marion Poschmann und Alf Mentzer. Poschmann, die bereits 2013 mit Die Sonnenposition auf der Shortlist stand, sei seit vielen Jahren von Japan fasziniert und habe 2014 japanische Gärten besucht. „Es ist ein Land voller Kontraste“, sagte die Autorin. Die japanische Lehre spiele in der klassischen Ästhetik eine große Rolle – ebenso die Erkenntnis von der Flüchtigkeit der Welt. „Der japanische Blick war mir vertraut, ich fühlte mich in Japan sofort am richtigen Platz“, verriet Poschmann und las Ausschnitte aus dem ersten Kapitel ihres Buches Die Kieferninseln, publiziert im Suhrkamp Verlag. Gilbert Silvester, ein Bartforscher, flieht mit dem ersten verfügbaren Interkontinentalflug nach Tokyo. Dort trifft er auf den Studenten Yosa Tamagotchi, der mit dem Complete Manual of Suicide unterwegs ist. „Wie kommen Sie auf Bartforschung?“, wollte Mentzer wissen. „Bartforschung ist international und absurd zugleich“, antwortete Poschmann. Silvester begibt sich auf die Spuren der Reisebeschreibungen des klassischen japanischen Dichters Basho, der wiederum wandelte schon auf Saigyos Wegen. „Die Reisen der Dichter fand ich faszinierend, Landschaften werden von ihnen immer wieder neu überschrieben“, sagte Poschmann. Ihr sei auch wichtig gewesen, dass der Protagonist kein Japan-Fan war. Und natürlich passte der Name Tamagotchi gut: „Das war ein fürchterliches Spielzeug, man musste sich ständig um dieses Küken kümmern. Aber Silvester muss auch ein Auge auf seinen Begleiter haben“, erklärte die Autorin. Im Laufe der Reise stellen Silvester und Tamagotchi fest: Die Orte der Dichter-Pilgerreise und beliebte Orte für Selbstmord sind mitunter die selben.

Mentzer fragt zudem nach Unterschieden zwischen Tee und Kaffee; Poschmann hatte geschrieben: „In Kaffeeländern lagen die Dinge offen zutage. In Teeländern spielte sich alles unter dem Schleier der Mystik ab.“ Marion Poschmann verriet: Sie trinkt Tee.

Gert Scobel fragte Robert Menasse in der dritten Runde, ob er sich auf Kaffee oder Tee freue. Schlagfertig antwortete Menasse: „Ich freue mich auf die anschließende Pause und aufs Rauchen.“ Auch die Frage nach dem Einstieg ins Buch Die Hauptstadt, Suhrkamp Verlag, konterte der Autor. Er sei Hegelianer, schreibe also das Vorwort am Ende. Gestenreich und mit viel Betonung trug er den Prolog vor.

„Statt des Bildes von Europa auf dem Stier kommt in Ihrem Roman ein Schwein vor. Wieso?“, fragte Scobel. „Ich wollte versuchen zu erzählen, was die Menschen in der Europäischen Kommission machen. Ein Schwein ist eine Universalmetapher, die vom Glücksschwein bis zur Drecksau führt“, erläuterte Menasse und erklärte auch die „Querschnittsmaterie Schwein“: Je nach Zustand des Tieres – von der Geburt bis zum Schnitzel – seien andere Menschen verantwortlich. Schwein und Europa hingen stark zusammen, man denke nur daran, dass die Arbeit der Europäischen Kommission „wie eine Sau durchs Dorf getrieben“ werde. „Das Schwein ist wie Kitt für das Gelingende und das schief Gehende“, verdeutlichte der Autor. Tatsächlich gehe es um Europa und das schlechte Image der Europäischen Kommission, einer „eigentlich gesichtslosen Institution, die aber aus mehreren Gründen bemerkenswert ist“. Die Rahmenbedingungen für Gesetze für einen ganzen Kontinent würden ausgerechnet in einer Stadt wie Brüssel verhandelt, einer Stadt mit 19 Bürgermeistern und ohne Nationsidee. „Man muss aber über Menschen reden, ihnen eine Biografie geben“, sagte Menasse. Er kommt auf Nachfrage auf die Gründung der Europäischen Kommission zu sprechen: „Der Ausgangspunkt ist ‚Nie wieder Auschwitz.’ Der erste Vorsitzende der Kommission war Walter Peter Hallstein. Seine Antrittsrede hielt er in Auschwitz. Dass die Europäische Kommission die Antwort auf Auschwitz ist, wird in Deutschland oft vergessen“, äußerte Menasse. Selbst die gegenwärtig in Brüssel arbeitende Generation wisse von der Gründungsidee nicht mehr viel. „Es ist kein Roman, der sich lustig über die EU macht. Aber Sie werden viel lachen“, versprach er.

Sasha Marianna Salzmann und Sandra Kegel unterhielten sich über Salzmanns Roman Außer sich, Suhrkamp Verlag. „Mit einem Debüt auf der Shortlist zu landen, ist schon etwas Besonderes“, begrüßte Kegel die Hausautorin des Maxim Gorki Theaters Berlin und fragte nach dem Unterschied zwischen Dramaturgie und Literaturbetrieb. „Am Theater ist man kollektiver, als einem manchmal lieb ist“, bemerkte Salzmann, „und man kann direkt auf Dinge reagieren.“ Sie habe plötzlich begonnen, Prosa zu schreiben und sei darüber zunächst erschrocken gewesen. Nach Istanbul habe sie sich zum Schreiben zurückgezogen, habe sich dort in der Community gut aufgehoben gefühlt. Der Roman durchmesse zwar ein ganzes Jahrhundert, es gehe aber um Erinnerungen, stellte Salzmann vor ihrer kurzen Lesung fest.

„Wo ist ihre Heimat?“, fragte Kegel. „Meine Heimat sind Bücher. Das klingt zwar kitschig, ist aber wahr. In der Familie konnte man sich nur über Bücher unterhalten. Und ich finde mich in Büchern wieder, weil sie radikal subjektiv sind.“ Beim Schreiben habe sie nach Geschichten gesucht und Figuren getroffen, das Buch sei ein Versuch von Kommunikation. „Ich fand es schön, mit Prosa tanzen zu dürfen“, gestand sie. Hätte der Verlag sie nicht gestoppt, hätte sie weitergeschrieben. Sie habe gewollt, dass jede Figur spricht – das habe natürlich etwas mit Theater zu tun. „Hat Google bei Ihren Recherchen gereicht oder waren Sie an Originalschauplätzen?“, wollte Kegel wissen. „Google reicht nie, aber Bücher haben geholfen. Und die Geschichten kamen zu mir“, antwortete Salzmann, für die das Schreiben eine Befreiung gewesen sei, da man im Theater von vielen Dingen abhänge. „Aber nach der Buchmesse folgt wieder Theater, ich mache meine erste Inszenierung“, verriet sie abschließend.

Die letzte Runde bestritten Alf Mentzer und Thomas Lehr, der bereits 2005 und 2010 auf der Shortlist stand. In diesem Jahr geht es um Schlafende Sonne, Carl Hanser Verlag. Er wolle mit seinen Romanen vergleichsweise nicht die Achttausender besteigen, sondern eher Eiger, Mönch und Jungfrau, antwortete Lehr auf eine Frage nach den geplanten Projekten, zu denen insgesamt drei Romane gehören. „K2 – das ist James Joyce. Das bin ich nicht“, blieb er im Bild. Eigentlich sollte Schlafende Sonne ein antipodischer Roman zu Nabokovs Katze, 1999 im Aufbau Verlag erschienen, werden. „Aber ich wollte über alles schreiben, was mich interessiert“, bekannte der studierte Biochemiker und sich für Philosophie begeisternde Lehr und sagte in Bezug auf Robert Menasses Roman: „Die Sonne ist mein Schwein.“ Das Motiv des Lichts im 20. Jahrhundert habe ihn umgetrieben. Zum Lesen holte er schnell eine Brille aus einem Stoffbeutel mit einem besonderen Aufdruck und erklärte nebenbei: „Der Beutel ist aus La Palma. Dort steht das größte Spiegelteleskop der Welt. Sie sehen – nichts ist dem Zufall überlassen.“

Ein Roman, der das 20. Jahrhundert erzählt, sei Schlafende Sonne nicht. Sondern eher eine Gebirgswanderung durch das 20. Jahrhundert anhand von Schwerpunkten der Interessen des Autors, erklärte Lehr. „Ich kann den Roman als synthetisches Instrument nutzen.“ Auf die von Mentzer angesprochene Künstlerin Louise Bourgeois, die mit der Spirale „Ordnung ins Chaos“ bringen wollte, sagte Lehr, dass die Spirale je nach Betrachtungsweise wie ein Sog, aber auch wie ein Zentrum, das viele Möglichkeiten biete, gesehen werden könne. „Ich möchte Geschichtsräume, die auf einem Zeitstrahl linear erscheinen, nebeneinander bringen.“ Das Zentrum sei ein Tag im August 2011. „Der Leser soll nicht überlegen, sondern die Räume mit Freude entdecken“, riet der Autor. „Muss man das Buch nicht zweimal lesen?“, fragte Mentzer. Lehr lachte: „Ja – aber man muss es nur einmal bezahlen. Und glauben Sie, es ist schlimmer, es zu schreiben als zu lesen.“

JF

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