Die Verleger-Blicke in den Editorials der Herbstvorschauen auf ihre jeweiligen neuen Programme und auf die Branche derzeit wollen wir in loser Folge mit Ihnen teilen. Hier heute Andreas Rötzer mit seinem Schreiben zur Matthes & Seitz – Vorschau:
Wir alle sind Anhänger der neuen Religion mit Namen Angst. Nachdem Greta Thunberg über zwei Jahre verzweifelt versuchte, den Menschen auf der ganzen Welt die Dringlichkeit der Klimafrage vor Augen zu führen, war es die Angst, die sie erzeugte, die eine ganze Generation auf die Straße trieb, um ihre Eltern dazu anzuhalten, für sie doch die richtigen Entscheidungen zu treffen, während diese Generation weltweit Latte togo trank, bei Decathlon einkaufte, um sich die Isomatten für die Sitins zu kaufen und im Internet Suchabfragen auslösten, die Millionen von Kilowattstunden aus sicheren Atomkraftwerken und sauberen Kohlekraftwerken auslösten.
Doch wie jede Volksreligion dient auch die Religion der Angst der Abfuhr schlechten Gewissens und zur Lösung des akuten Handlungsdrucks. Wir haben Angst vor dem Unlösbaren, wir sind zu klein vor der Größe des Problems, die Angst ist bereits die Handlung und erspart uns die harten Einschnitte in unsere Lebensgewohnheiten. Die Angst bewahrt uns davor, unser Leben ändern zu müssen.
Das Programm von Matthes & Seitz Berlin stellt sich schon seit Längerem dem Problem von Einsicht und Handlung, von Klima und Zivilisation, von der Rolle der Natur im Anthropozän, und auch das kommende Herbstprogramm bildet die Dringlichkeit dieser Fragen ab.
Zwei Bücher möchte ich aus der Fülle an dieser Stelle herausstellen, sie umreißen den Horizont des Programms: Während Norbert Bolz in seinem scharfen, hellsichtigen und provokanten Essay „Die Avantgarde der Angst“ die Religion der Angst aufdeckt und die Scheinheiligkeit der jüngeren Ökobewegungen geißelt, ruft der Klimaaktivist Andreas Malm zu den Waffen. Sein faszinierender, vielschichtiger und faktengesättigter Essay „Klima|x“ ist während des Lockdowns in Berlin entstanden und war bislang nicht angekündigt, doch ist er ein so wichter Beitrag zu den gegenwärtigen Debatten, dass wir ihn so schnell wie möglich veröffentlichen wollten:
„Klima|x“ ist ein radikaler Aufruf, die Gewohnheit scheinheiliger Ersatzhandlungen abzulegen. Er zeigt die tiefen Verbindungen von Corona und Klima auf, zeigt, dass die Pandemie nichts weniger ist als ein Symptom des Klimawandels und entlässt uns nicht in die üblichen Ablasshandlungen: Biolimonade, Biohonig und Biofleisch, vielleicht sogar ein E-Auto oder doch nur einen Hybridantrieb (man geht ja doch lieber auf Nummer sicher, die Versorgung mit Ladestationen ist noch nicht so weit), in Urlaub geht es nur nach Österreich (die Flugreise verkneifen wir uns dieses Jahr, im nächsten geht es dafür aber dann weiter weg, die lang ersehnte Reise nach Neuseeland oder Südafrika vielleicht, man hat dieses Jahr ja einen enorm kleinen Co2-Fußabdruck, da ist nächstes Jahr schon wieder ein bisschen mehr drin).
Andreas Malm ruft an die Waffen, und die Waffen liegen in unser aller Hand, täglich und überall können wir sie zum Einsatz bringen. Unser wirksamste Waffe ist nämlich die, unser Leben ändern zu können: Ja, wir müssen unser Leben ändern, sonst ändert das Leben uns, unserer Kinder und spätestens unserer Enkel. Denn dass das Leben am Leben bleibt, daran ist kein Zweifel, aber es kann leichterhand, andere Formen anzunehmen als die menschliche. Unter der Oberfläche der Evolution brodelt es, und da will viel an die Oberfläche, was uns nicht so lieb sein kann, aber der Klimawandel, ausgelöst durch entgrenzte Mobilität und hemmungslosen Konsum reißt die Risse in die Oberfläche, durch die es irgendwann zum totalen Lockdown kommen wird. „Klima|x“ wird Ihnen die Augen öffnen und Ihr Leben ändern.
Bisher brachten wir die Editorials von
Joachim von Zepelin und Christian Ruzicska,
Dr. Stephanie Mair-Huydts und Steffen Rübke,
Solange die Schuldzuweisung an die kleinen Leute geht, kann mit diesem Verlag was nicht stimmen.